Prolog
»Bist
du dir absolut sicher, dass du das tun willst, Daniel?« Gabriel sah
seinen Freund eindringlich an, doch Daniel sah nur mit einem sturen
Funkeln in seinen türkisblauen Augen zurück. Die beiden standen auf
einem langen Gang, der gesäumt war von alten, hohen Säulen im
griechischen Stil. Der Tempel in dem sie sich befanden, war so alt
wie der zweite Himmel selbst, welcher nur den Erzengeln vorbehalten
war. Im Gegenzug dazu war der erste Himmel alleine für Gott
bestimmt.
»Daniel!
Du bist der Ranghöchste Erzengel. Du kannst nicht einfach so auf die
Erde gehen ohne richtig darüber nachzudenken!«
»Gabriel
ich muss!« Er war kurz davor sich die rot-blonden Haare zu raufen
und rang darum, die Beherrschung über seine Hände zu behalten. »Du
hast doch gesehen, was Cassiel angestellt hat! Statt sie zu schützen,
hat sie ihr das Leben zur Hölle gemacht!«
»Ja,
und genau das solltest du Gott mitteilen. Du bist seine rechte Hand,
vor allem du solltest ihm alles sagen können!« Gabriel hatte seine
Stimme erhoben, er wollte einfach nicht zulassen, dass sein bester
Freund sich alles ruinierte, nur weil er im Affekt handelte. Sie alle
hatten heute Nachmittag gesehen, was Cassiel ihrem Schützling
angetan hatte. Sie wurden Zeugen, wie der Schutzengel der Einsamen
und Traurigen, dieses junge Mädchen, einfach ihrem Schicksal
überlassen hatte, statt ihr beizustehen. Keiner der Erzengel hieß
ihr Handeln gut, sie wussten, dass sie einfach nur eifersüchtig war,
was das alles noch schlimmer machte. Denn niemand von ihnen sollte
sich von so niederen und unreinen Gefühlen in seinem Handeln
beeinflussen lassen. Dennoch sollte Daniel nicht überstürzt
reagieren, es gab andere Mittel und Wege und das versuchte Gabriel
ihm klar machen.
Doch
an Daniel war im Moment kein heran kommen, er hatte seinen Entschluss
gefasst und war dafür bekannt, eine einmal gefasste Entscheidung
nicht mehr zu überdenken. Er war nicht umsonst der Engel der Liebe,
Güte, Gnade und Barmherzigkeit, wenn er jemanden in sein Herz
geschlossen hatte, würde er für diesen jemand sterben. Und diesem
schüchternen Menschenmädchen, mit den braunen Haaren und grünen
Augen, hatte er einen festen Platz in seinem Herzen geschenkt.
»Gott
kann nichts tun und das weißt du auch.« Daniel lief auf und ab,
wobei sich seine drei Flügel entfalteten, was jedem deutlich machte,
wie angespannt er war. Die beiden äußeren dehnten sich nach links
und rechts, während der in der Mitte, wie ein Horn über seinem Kopf
aufragte. »Er lässt jedem seinen freien Willen und mischt sich
niemals direkt ein.« Gabriel ließ seinen Freund nicht aus den
Augen, er wirkte wie eine Raubkatze im Käfig, jeden Moment bereit
zum tödlichen Schlag auszuholen.
»Aber
vielleicht kann er dennoch etwas tun, denk bitte nochmal drüber
nach.«
Daniel
sah seinem besten Freund in die Augen und seufzte resigniert. »Ich
habe drüber nachgedacht Gabriel, sehr gut sogar und Azzael hält es
auch für eine gute Idee.«
»Azzael!«
Gabriel spie den Namen regelrecht aus. »Der will doch nur an deinen
Posten! Er will die rechte Hand Gottes werden und wirkt auf uns schon
lange nicht mehr so freundlich und zuvorkommend wie auf dich!«
»Jetzt
ist aber genug!« Daniel legte all seine Macht in diese wenigen Worte
welche nun zu vibrieren schienen. »Wenn Azzael meinen Posten gewollt
hätte, hätte er ihn sich schon längst genommen und nicht auf so
eine ungewisse Gelegenheit gewartet.« Gabriel sagte eine ganze Weile
nichts sondern blickte in die Lehre. Schließlich sah er Daniel nur
in die Augen und erkannte, dass diese Diskussion zwecklos war.
Traurig schüttelte er den Kopf und wandte sich ab, bereit zu gehen.
»Merk
dir eins: Du wirst hier oben immer einen Freund haben, ganz gleich
was passieren wird.« Mit diesen Worten drehte er sich endgültig um
und ging den langen Flur entlang davon, bis ihn die scheinbare
Endlosigkeit verschluckte. Daniel sah ihm hinterher während sich
leise Zweifel in ihm breit machten, doch ehe er genau darüber
nachdenken konnte, trat Azzael an seine Seite und legte ihm seine
Hand auf die Schulter. Daniels Flügel falteten sich beinahe
augenblicklich wieder auf seinem Rücken zusammen.
»Du
tust das Richtige, mein Freund.« Daniel antwortete nichts, er hörte
seinen alten Freund kaum, war er in Gedanken doch schon auf der
Reise. Auf der Reise zu der einzigen Frau, die er jemals lieben
würde...
Kapitel
1
»Guckt
euch die mal an.«
»Das
ist doch die Cooper.«
»Ja,
wie die immer herum läuft, die geht bestimmt den Altkleidercontainer
plündern, so wie ihre Klamotten immer aussehen.« Jeden Morgen der
gleiche Spießrutenlauf, die gleichen immer wiederkehrenden Sprüche.
Wieder einmal stehe ich an meinem Spind und lass dieses morgendliche
Grauen über mich ergehen. Das trostlose Grau der Schränke, spiegelt
haargenau meine Stimmung wider, aber ihre Sticheleien prallen
mittlerweile an mir ab, als würde ich nicht mehr hören als den Wind
in den Blättern. In den siebzehn Jahren, die ich nun schon lebe,
habe ich noch nie etwas anderes gekannt, als Spott und Hohn sobald
ich mit anderen Kindern zusammen war. Dabei kann ich mich nicht
einmal daran erinnern, wann das alles angefangen hat. Seit ich denken
kann, bin ich eine Einzelgängerin, glücklich damit solange ich
meine Ruhe habe. Ich kämpfte mich mein Leben lang schon alleine
durch, fast ohne irgendwelche Freunde welche mir bei erster
Gelegenheit in den Rücken fallen wie ich es schon so oft beobachtet
habe. Wenn ich früher zu meinen Eltern mit meinen Problemen ging,
bekam ich immer die gleichen Aussagen zu hören: »Sei nicht so ein
Weichei.« oder »Lass die doch, die werden schon aufhören wenn sie
merken, dass es dich nicht interessiert.« Aber genau das ist das
Problem, es hat mich interessiert und es hörte nie auf. Auch jetzt,
mit siebzehn Jahren, bekomme ich meinen Mund nicht auf um mich zu
wehren. Ich schultere meine blaue Umhängetasche und beeile mich, in
mein Klassenzimmer zu kommen, bevor es zur Stunde klingelt. So
unauffällig wie möglich husche ich die Flure des Gymnasiums entlang
und versuche keine Aufmerksamkeit zu erregen. Die Wände der Schule
sind in einem hellen gelb gestrichen, was die Umgebung allgemein
freundlich wirken lässt. Doch mich kann dieses Umfeld nicht
täuschen, an vielen Stellen sind Schmierereien und andere Bilder der
Schüler mehrfach übermalt und in etlichen Ecken blättert die Farbe
ab. Ein paar Minuten später erreiche ich die rote Tür meines
Klassenzimmers, welche wie immer geschlossen ist und ich wappne mich
noch einmal, bevor ich die Türklinke hinunterdrücke. Hoffentlich
ist Caprice noch nicht da, dann habe ich eine gute Chance, ungesehen
in die Klasse zu kommen. Caprice Dante ist meine beste und einzige
Freundin, wobei ich mich jedes Mal frage, wie es dazu kam, dass
ausgerechnet sie meine Freundin wurde. Sie ist der Inbegriff der
Schönheit: Schlank, blond und blauäugig, immer perfekt gestylt und
nie um eine Antwort verlegen. Schon oft habe ich mir gewünscht, doch
nur ein kleines bisschen wie sie zu sein, doch leider färben
Charakterzüge nicht ab. Caprice und ich gehen in die zwölfte Klasse
des Albert-Einstein-Gymnasiums in Neubrandenburg und kennen uns schon
seit wir im Kindergarten waren. Mein Leben hier war bis jetzt kein
Kinderspiel, selbst mit ihr als beste Freundin und so wie es
aussieht, wird sich daran so schnell nichts ändern. Ich fahre mir
noch einmal mit der Hand über meine braunen, glatten Haare, die ich
zu einem Pferdeschwanz zusammen gebunden habe und öffne die Tür mit
einem entschlossenem Ruck. Kaum betrete ich den Raum, schreit Caprice
meinen Namen und zwar so laut, dass ihn niemand überhören kann.
»Dawn! Da bist du ja endlich!« Ich seufze, ringe mir ein Lächeln
ab und winke Caprice zu, die in der hinteren Ecke an einem der
Doppeltische sitzt und gehe zu meinem Platz am Fenster. Ich sitze
allein und bin auch froh darüber, so habe ich wenigstens während
des Unterrichts meine Ruhe. Naja vielleicht wäre es schöner, wenn
Cap neben mir sitzen würde, aber sie hat genügend andere Freunde,
die deutlich mehr mit ihr gemeinsam haben und so hoffe ich erst gar
nicht, dass sie sich mal zu mir setzt. Glücklicherweise ist unsere
Klasse klein. Wir sind nur zwölf Schüler und in den meisten
Klassenzimmern gibt es mehr als zwölf Doppeltische. Ursprünglich
waren die Räume für größere Klassen ausgelegt, so dass wir nun
freie Platzwahl hatten.
»Ich
verstehe nicht, warum du dich mit der abgibst.« Sharon versucht erst
gar nicht leise zu sprechen und so kann ich sie durch den Raum sehr
gut verstehen. Sie weiß genau, dass ich sie höre und legt es darauf
an, mich zu demütigen. Als ich aufschaue, sehe ich wie sie mich mit
ihren grün-braunen Augen fixiert, ein fieses Lächeln im Gesicht.
Ihre brünetten Locken, hat sie ordentlich am Hinterkopf
zusammengesteckt und ich muss mir erneut eingestehen, dass sie
wirklich hübsch ist.
»Du
hättest das Zeug zu unserer Clique zu gehören, Caprice.« Während
sie spricht, lässt sie mich keinen Moment aus den Augen.
»Bevor
ich in eure Clique komme, rasiere ich mir lieber den Schädel kahl.«
Caps Blick bohrt sich in den von Sharon, welche den Blick von mir
abgewandt hat um meine beste Freundin zornig an zu funkeln. Sie gibt
ständig solche Antworten worum ich sie ziemlich beneide. Sharon
antwortet nicht weiter, sondern rümpft nur die Nase während sie
sich neben Taylor setzt, welche Sharon förmlich anhimmelt. Es
klingelt und unser Lehrer kommt endlich hinein. Er stellt sich an den
Lehrertisch und zieht eine Weltkarte vor der Tafel herunter um damit
den Erdkundeunterricht zu beginnen. Natürlich muss ich an die Karte,
warum sollte ich auch verschont werden. Seufzend stehe ich auf und
gehe nach vorne. Ich hasse es vor der Klasse zu stehen, denn kaum
stehe ich dort, geht auch das Gekicher wieder los. Und ich weiß noch
nicht einmal, warum sie kichern. Meine Sachen sind ganz normal und
alltäglich. Blaue Jeans, schwarzes T-Shirt, Turnschuhe. Aber
wahrscheinlich ist das nicht cool genug, denn es stehen keine
Markennamen drauf.
»Dawn,
wiederhole doch bitte noch einmal den Stoff von der letzten Stunde.«
Herr Meier überhört das Gekicher einfach und ich versuche es ihm
gleich zu tun. Den Stoff der letzten Unterrichtsstunde habe ich noch
gut im Kopf, also wiederhole ich alles was ich weiß und darf mich
dann wieder setzen. Der Rest der Stunde geht viel zu schnell vorbei,
denn die Pausen sind am Schlimmsten und daher hoffe ich immer, dass
es möglichst lange dauert bis es klingelt. In den Stunden habe ich
meine Ruhe, aber kaum hat Herr Meier den Raum verlassen, gehen das
Geplapper und die Sticheleien von vorne los. Also sitze ich einfach
nur auf meinem Platz und kritzele in meinen Schreibblock. So lange es
nur kleine Sticheleien sind, ignoriere ich es einfach und tue so als
wäre ich taub. Obwohl das Zimmer in einem schönen Orangerot
gestrichen ist und große Fenster hat, kommt es mir vor, als würde
ich in einem Kerker sitzen und die Zeit will einfach nicht
vorbeigehen. Dabei hat diese Pause nur zehn Minuten, doch jede Minute
erwarte ich einen neuen Mobbing Angriff von Sharon und ihrer Clique.
Gerade als ich zum gefühlt hundertsten Mal auf die Uhr schaue, kommt
Caprice an und setzt sich auf meinen Tisch.
»Ich
gehe heute Nachmittag einkaufen, hast du Lust mitzukommen?« Grinsend
schaue ich auf.
»Wie
oft willst du das eigentlich noch Fragen?« Jeden Tag stellt sie mir
dieselbe Frage. Und immer wieder bekommt sie die gleiche Antwort.
»So
lange bis du endlich einmal ja sagst.« Ich muss grinsen.
»Zum
Ja-sagen ist es doch noch viel zu früh«, spreche ich das erstbeste
aus, was mir in den Sinn kommt. »Wir haben uns ja noch nicht einmal
geoutet.« Caprice lacht und mein Lächeln wird noch ein wenig
breiter. »Dawn, du kannst so witzig sein, wenn du willst. Du
solltest diese Seite öfter zeigen.« Ich zucke nur mit den Schultern
und senke den Blick. Caprice weiß ganz genau, dass ich mich nur bei
ihr so geben kann. »Du weißt, dass ich das nicht kann.«
»Doch
du kannst, du musst dich nur mal trauen.« Mit diesen Worten lässt
sie mich allein und geht wieder auf ihren Platz. Endlich klingelt es
zur nächsten Stunde, doch auch diese geht wieder viel zu schnell
vorbei. Der ganze Schultag läuft nach diesem Schema ab und so geht
es jeden Tag, Woche für Woche. Nach der siebten Stunde, mache ich
mich auf den Weg nach Hause. Der Dienstag ist geschafft und ich zähle
die Tage bis zum Wochenende, es sind nur noch drei. Als ich den
Schulhof verlassen will, stellt sich mir Jerome in den Weg. Auch er
ist ein Schüler aus meiner Klasse und der on – off Freund von
Sharon. Zurzeit mal wieder der off-Freund soweit ich weiß.
»Na
Püppchen.« Ich versuche ihn böse anzuschauen, was nicht gerade
meine Stärke ist und mich an ihn vorbeizuschieben, doch Jerome lässt
mich nicht. Er hat mich an einen Zaun gedrängt und wird von seinen
besten Kumpels flankiert. Seine Sprüche sind keinesfalls nett
gemeint, das weiß ich aus Erfahrung, sie sollen mich demütigen und
verunsichern, was sie meistens auch schaffen.
»Wo
willst du denn so schnell hin?« Seine Begleiter Robin und Markus
lachen und Markus klopft ihm auf die Schulter. Ich schaffe es nicht
einmal zu sagen, dass sie mich in Ruhe lassen sollen, alles in mir
ist blockiert und ich werde rot. Also machen sie weiter, während ich
beschämt zu Boden schaue und hoffe, dass es schnell vorbei ist.
»Warum
denn so verkrampft?« Während er spricht, fängt Jerome an mich zu
betatschen und ich verschränke die Arme vor meiner üppigen Brust,
um ihn wenigstens ein bisschen auf Abstand zu halten. Dabei muss ich
mich zusammenreißen, damit mir nicht die Tränen in die Augen
steigen. Auch wenn ich ihm keine Ansage machen kann, ich werde ihm
nicht die Genugtuung gönnen mich weinen zu sehen.
»Du
musst mal lockerer werden, Püppchen. Bist bestimmt noch nie gepoppt
worden.« Markus bricht in schallendes Gelächter aus und ich merke
wie mein Gesicht noch dunkler wird.
»Aber
auf so etwas wie die steigt doch eh keiner freiwillig rauf«, sagt er
zu Jerome. Aus den Augenwinkeln beobachte ich die pubertären
Teenager. Robin scheint es unangenehm zu sein, denn er blickt nicht
in meine Richtung und tritt nervös von einem Fuß auf den anderen.
»Kommt,
lass die doch, da kommt der Meier und der hat uns schon auf dem
Kieker«, er zieht Jerome am Arm von mir weg, während Markus sich
gleich aus dem Staub macht. Jerome geht widerwillig mit, wirft mir im
Gehen aber noch ein anzügliches Grinsen zu, ich kann es in seinen
braunen Augen aufblitzen sehen.
»Wenn
du mal bisschen entspannen willst«, bei dem Wort entspannen zeichnet
er mit den Fingern Gänsefüßchen in die Luft, während er sich
rückwärts von mir fort bewegt.
»Dann
opfere ich mich gern für dich.«
Er
dreht sich um und folgt den anderen. Ich schaue den Jungs hinterher
und frage mich wie jedes Mal, was in diesen Idioten vor sich geht.
Mein Blick trifft den von Robin. Überrascht stelle ich fest, dass er
bestürzt aussieht, doch so schnell wie er wegschaut, bin ich mir
nicht sicher, ob ich es richtig gesehen habe. Innerlich wappne ich
mich und warte darauf, dass Herr Meier kommt und mir seine Fragen
stellt, wie er es jedes Mal macht, wenn er sieht, dass die Jungs mich
bedrängen. Und immer bekommt er die gleiche Antwort, nämlich das
alles in Ordnung ist. Doch er kommt nicht. Also schaue ich mich um,
um zu sehen, ob er noch weit weg ist und ich es schaffe die Flucht zu
ergreifen, doch unser Klassenlehrer ist nirgendwo zu sehen. Verwirrt
blicke ich noch einmal in Richtung der Jungs und sehe wie Robin mir
ein zaghaftes Lächeln zuwirft. Ich laufe rot an und kann nicht
zurück lächeln, es ist als wären meine gesamten Muskeln gelähmt.
Schnell schaue ich weg und mache, dass ich nach Hause komme. Mutti
und Papa sind noch arbeiten, als ich daheim ankomme. Unser Haus ist
klein und hat zwei Stockwerke. Im oberen Stockwerk liegen die Zimmer
von mir und meinen Geschwistern. Unten findet man das Schlafzimmer
meiner Eltern, ein Gästezimmer, eine große Küche und ein
Wohnzimmer. Badezimmer gibt es zwei Stück, verteilt auf die beiden
Stockwerke. Dennoch reichen sie morgens nie aus. Als ich das Haus
betrete, ist von meinen beiden Geschwistern niemand zu sehen.
Wahrscheinlich ist Lily mit ihren Freundinnen unterwegs genauso wie
Nick. Lily ist vier Jahre jünger, aber viel beliebter an der Schule
und Nick ist sechs Jahre jünger. Meine Geschwister sind beide das
genaue Gegenteil von mir. Es fällt ihnen deutlich leichter Anschluss
zu finden. Allerdings hat meine Schwester eine körperliche
Behinderung und ist daher der Liebling unserer Mutter, Nick geht auf
eine Förderschule und ist das Nesthäkchen unserer Familie. Dadurch
haben beide auch eine andere Erziehung genossen. Während meine
Eltern zu mir immer streng waren, so wurde bei Lily sehr oft
Nachsicht geübt, da sie es mit ihrer Behinderung ja eh schon schwer
hat. Vieles was sie tat wurde nie bestraft, aber wenn ich mal etwas
angestellt habe, war die Strafe umso härter. Meistens habe auch ich
die Schuld bekommen, wenn etwas passierte. Entweder ich habe nicht
gut genug aufgepasst oder ich habe nicht gemacht, was man mir gesagt
hat, oder, oder, oder … Dabei gab es nie Schläge oder so, wir
hatten auch so genug Respekt vor unseren Eltern. Mittlerweile bin ich
daran gewöhnt und habe ein dickes Fell. Die Vorwürfe meiner Eltern
prallen an mir ab, dass sie mich dennoch lieben, weiß ich. Sie
können es nur nicht so zeigen, weil sie es selbst nie gelernt haben.
Nachdem
ich die Haustür hinter mir geschlossen habe, gehe ich die Treppe
hinauf in mein Zimmer und setze mich an meinen Schreibtisch. Mein
Reich ist nicht das Größte und neben dem Schreibtisch stehen noch
ein Futon Bett und ein Kleiderschrank drin, was den Platz zum Bewegen
stark einschränkt. Meine Wände sind in einem schönen Apricot-Ton
gestrichen und meine Füße versinken bei jedem Schritt in einem
dicken, weichen Teppich dessen Farbe an den Himmel bei Vollmond
erinnert. Als erstes erledige ich meine Hausaufgaben und lerne danach
noch eine Weile bis mein Handy mich aus meinen Gedanken reißt und
ich Caprice ihren Namen erblicke.
»Hey,
Schätzchen«, meldet sie sich, nachdem ich abgehoben habe.
»Hey,
Cap.«
»Und?
Hast du dich endlich mal anders entschieden? Mein Pa fährt uns
auch.« Ich verkneife mir ein seufzen, jedoch verdrehe ich die Augen
auch wenn sie es nicht sehen kann, oder vielleicht gerade deswegen.
»Caprice,
ich muss noch lernen.« Sie schnaubt ins Telefon und ich kann ihr
Gesicht dabei förmlich vor mir sehen.
»Du
lernst jeden Tag und hast in fast allen Fächern eine eins. Was
willst du denn noch?«
»In
allen Fächern eine Eins?« Caprice lacht und sagt: »Du bist einfach
unverbesserlich.«
»Tja
so bin ich.«
»Ok,
dann sehen wir uns morgen in der Schule.« Ich nicke nur, obwohl ich
weiß, dass sie mich gar nicht sehen kann.
»Dann
bis morgen, Cap.« Caprice legt auf und kurz darauf bin ich schon
wieder ganz in meine Bücher versunken. Zwischendurch denke ich
darüber nach, wie es wohl wäre Caprice zu sein, nicht mehr so
schüchtern und endlich mal den Mund auf zu kriegen. Während ich mir
ausmale, wie es sein könnte, kaue ich auf meinem Kugelschreiber
herum, eine lästige Angewohnheit. Wenn ich nicht mehr so schüchtern
wäre, würde ich mich vielleicht auch trauen, mal mit Robin zu
sprechen, oder zurück zu lächeln. Für mich ist er der süßeste
Typ in unserer Klasse und ständig frage ich mich, was die anderen
Mädels an Jerome finden. Das Einzige was an dem attraktiv ist, sind
seine braunen Augen, das war es dann aber auch schon. Zumindest, wenn
es nach mir geht. Robin hingegen, mit seinen blonden Locken und
seinem stämmigen Körperbau, der wäre schon eher was für mich,
sein Anblick berührte etwas ganz tief in meinem Inneren.
Ich
seufze und befinde mich augenblicklich in der kalten Realität
wieder. Tagträume sind etwas wirklich schönes, nur leider kann man
nicht in ihnen leben. Wenn ich doch nur nicht so schüchtern wäre,
würde ich wohl auch nicht, auf Ewig Jungfrau bleiben ...
Unten
geht die Haustür auf und ich bereite mich auf das vor, was kommen
wird. Wir wohnen am Stadtrand von Neubrandenburg, nicht weit entfernt
vom Tollensesee. Von Nicks Zimmer aus, kann man das Belvedere sehen.
Ich liebe den Anblick des kleinen Tempels inmitten all der Bäume und
den glitzernden See darunter, der funkelt wie tausend Sterne, wenn
die Sonne darauf scheint. Wie gerne würde ich in Nicks Zimmer
wohnen. Aber der Kleinste braucht aus irgendeinem Grund ja das größte
Zimmer, doch kaum, habe ich diesen Gedanken, schäme ich mich auch
schon dafür. Ich sollte nicht so missgünstig gegenüber meinem
kleinen Bruder sein, jedoch ist es alles andere als einfach.
»Dawn!«
Mutti schreit mal wieder das halbe Haus zusammen und bevor sie
nochmal los schreit, rufe ich: »Ich komme!« Den Kugelschreiber
packe ich weg und gehe nach unten.
»Du
hast wieder nicht das Wohnzimmer aufgeräumt«, schimpft sie gleich
los.
»Ich
habe gelernt und meine Hausaufgaben gemacht und fange gleich mit dem
Wohnzimmer an.« Sie sagt nichts, zieht sich nur aus und hilft dann
Lily aus ihren Sachen. Mama muss sie mit nach Hause gebracht haben.
Ihr beeinträchtigter Arm ist mit neuen Armreifen geschmückt und
ich muss erneut das aufkeimende Gefühl der Eifersucht unterdrücken,
Lily ist schon gestraft genug. Sie kann ihren linken Arm nur an der
Schulter bewegen, der Rest ist steif und ihre Hand endet in Stummeln,
statt in richtigen Fingern. Ich schüttele den Kopf und gehe ins
helle und geräumige Wohnzimmer. Eine schöne Wohnwand ziert die eine
Seite, direkt gegenüber der großen Sofalandschaft. Vor dem großen
Erkerfenster steht ein Schreibtisch, auf dem der PC meiner Eltern zu
finden ist und ich beginne schweigend während Lily um mich herum
springt und mir ihre Armbänder zeigt. Sie sind nicht die einzigen
Sachen die sie bekommen hat, aber wenn ich mal etwas brauche heißt
es immer nur: Wir haben keinen Esel der Geld scheißt, nicht einmal
Taschengeld bekomme ich und da soll man lernen mit Geld umzugehen.
Wieder seufze ich auf.
»Alles
ok, Dawn?« Lily klingt ehrlich besorgt und ich lächele sie an.
»Ja,
alles gut.« Nachdem ich mit aufräumen fertig bin, frage ich Mutti
ob ich noch etwas machen soll, doch sie verneint, also verziehe ich
mich wieder in mein Zimmer und lese. Bücher sind neben Caprice meine
besten Freunde, denn sie widersprechen nicht und verarschen mich auch
nicht. Sie sind immer da und wann immer ich will, kann ich in ihnen
abtauchen, in andere Welten verschwinden und die Realität um mich
herum vergessen. Doch auch wenn die Realität mich immer wieder
einholt, stürze ich mich erst einmal mit Harry, Ron und Hermine in
ein weiteres Abenteuer.
Nach
knapp einer Stunde lesen, schreit meine Mutter wieder nach mir, denn
es gibt Abendbrot und obwohl ich keinen Hunger habe, gehe ich in die
Küche. Das Licht in der Küche ist gedämpft wodurch die mintgrünen
Fliesen dem Raum eine magische Note geben und gut mit der roten
Küchenzeile harmonieren. Meine Familie sitzt schon und so setze ich
mich auf meinen Platz neben Nick, gegenüber von Lily und Mama an den
großen Eichentisch. Papa sitzt am Kopf des Tisches als Oberhaupt der
Familie. Er ist erst vor einigen Minuten nach Hause gekommen und
sitzt noch in seinen Arbeitssachen da. Normalerweise zieht er seinen
Anzug vor dem Abendessen aus, aber heute scheint er zu hungrig zu
sein um sich diese Zeit noch zu nehmen. Sein Job im Büro muss mal
wieder ziemlich Stressig gewesen sein.
»Und
Dawn, wie war dein Tag heute?« Papa sieht mich fragend an, seine
schwarzen Haare liegen perfekt und die grauen Augen leuchten. »Wie
immer. Alles ok. Ich habe auch schon meine Hausaufgaben erledigt und
gelernt.« Papa nickt und widmet sich dann seinem Abendbrot, es gibt
Nudelauflauf mit Hackfleisch. Ich weiß, dass meine Eltern mich
lieben, aber manchmal wünschte ich mir wirklich, sie würden mehr
für mich da sein. Oder mir mehr das Gefühl geben, sich mehr für
mich zu interessieren, aber selbst wenn sie ahnen, dass etwas nicht
stimmt, sagen sie nichts. Irgendwann in der dritten Klasse habe ich
aufgehört, meinen Eltern von dem Mobbing zu erzählen. Ich habe
alles in mich hineingefressen, habe alles still ertragen und meine
Eltern haben nie nachgefragt. Nur, wenn es mal wieder ganz besonders
schlimm ist, gehe ich zu meinem Vater. Einmal wurde ich von einem
ehemaligen Klassenkameraden gewürgt, bin heulend nach Hause gelaufen
und habe ihm unter Tränen erzählt was passiert ist. Ohne ein Wort
zu sagen, setzte Papa sich ins Auto und fuhr zu diesem Jungen, er
hieß David. David hat mich nie wieder angepackt oder auch nur ein
Wort zu mir gesagt. Ich weiß nicht was mein Papa gemacht hat, aber
es hat mir gezeigt, dass ich ihm nicht egal bin. Außer den paar
kleinen Fragen, die Papa stellt, wird nicht großartig gesprochen.
Mutti ist eh nicht so der Typ der viel redet, sie stürzt sich in
ihre Aufgaben als Mutter, wobei Lily absoluten Vorrang hat, und
ansonsten ist sie einfach eine schüchterne Frau mit wenig Freunden,
fast gar keine. Sie tut mir oft leid, denn sie ist meine Mama und ich
liebe sie und mit anzusehen, wie ihr nicht vorhandenes Sozialleben,
sie Stück für Stück zerbricht, macht mich traurig. Da ich selbst
genau weiß wie es ist ohne Freunde zu leben, kann ich mir gut
vorstellen wie Mutti sich fühlt. Papa ist das genaue Gegenteil. Wenn
er einen seiner vielen Bekannten trifft, dann kann es schon mal
passieren, dass er sich fest quatscht und erst Stunden später wieder
nach Hause kommt. Mutti ist dann meist sauer, weil sie sich allein
gelassen fühlt und redet einen ganzen Abend lang nicht mit ihm. Nach
dem Essen versammeln wir uns im Wohnzimmer und schauen eine Serie
zusammen, dies ist fast die einzige Zeit die wir als Familie
zusammensitzen, außer beim Essen natürlich. Sobald die Serie endet,
geht jeder wieder seinen Aktivitäten nach. Lily und Nick spielen
zusammen bis es Zeit für sie ist ins Bett zu gehen. Mutti und Papa
unterhalten sich über den Tag, wobei Papa mehr redet und Mutti eher
zuhört. Ich weiß, dass sie das Interesse meistens nur Vortäuscht,
nur selten interessiert es sie wirklich was Papa zu sagen hat. Doch
es funktioniert, nach außen hin sehen sie glücklich aus. Doch
manchmal frage ich mich, wie es in ihnen aussieht. Da sie nie darüber
reden, werde ich das wohl niemals erfahren. Kopfschüttelnd wende ich
mich von meinen Eltern ab, die auf der Couch sitzen und sich
unterhalten. Ich gehe in mein Zimmer und lese weiter, bis es auch für
mich Zeit ist, schlafen zu gehen und den nächsten bescheidenen Tag
zu erwarten.