Kapitel
1 – Lysithea
Die
Wellen schlugen an den Strand und meine roten Locken wehten mir ins
Gesicht. Jamie ging neben mir her. Ein kurzer Blick in sein Gesicht
genügte, um zu sehen, dass er das schöne Wetter sichtlich genoss.
Der erste richtig schöne Tag seit wir unseren Urlaub hier an der
Ostsee begonnen hatten. »Valeria?«, fragte Jamie. Ich hatte gar
nicht mitbekommen, dass er mit mir redete. Obwohl ich ihm direkt ins
Gesicht gesehen hatte. »Ja?« Ich errötete und zuckte ein wenig
zusammen.
»Was
sagst du dazu?« Er zog seine perfekt geschwungenen Augenbrauen
fragend nach oben. »Was sage ich wozu?« Verwirrt schaute ich ihn
an. Mit einem leichten Lächeln verdrehte er seine goldbraunen Augen.
Er kannte mich so gut, dass er lächelnd er darüber hinweg sah, wenn
ich ihm nicht zu hörte. »Ich hab dich gefragt, was du davon hältst,
wenn wir unseren Urlaub ein bisschen verlängern. Es wäre doch
schade, wenn wir jetzt, wo das Wetter so schön geworden ist, schon
wieder abreisen. Und der Wetterbericht hat für die nächsten Tage
noch mehr Sonnenschein angekündigt«, wiederholte er geduldig, seine
Frage. »Das wäre toll!« Ich versuchte, meine Stimme enthusiastisch
klingen zu lassen, und lächelte. Eigentlich sollte ich mich freuen,
wenn ich noch mehr Zeit mit Jamie verbringen konnte. Zu Hause wartete
nur Arbeit auf uns und wenig Zeit zu zweit. Ich war selbstständige
Autorin und lag mit meinem neuen Buch weit zurück. Denn ich hatte
eine Schreibblockade, die meiner Meinung nach an den Albträumen lag,
welche mich in den letzten Monaten plagten.
In
diesen Träumen ist es immer dunkel und viele Flammen wüten auf
einer weiten Ebene. Jamie liegt jedes Mal ein ganzes Ende von mir
entfernt zwischen mehreren Feuerzungen. Er rührt sich nicht. Ich
versuche zu ihm zu kommen, doch mein weit ausgestelltes Kleid, dass
ich in jedem Traum trage, hindert mich daran. Mit jedem Schritt, den
ich auf Jamie zu gehe, entfernt er sich weiter von mir. Nach
Ewigkeiten hat das Feuer mich eingekreist und verbrennt mich bei
lebendigem Leibe. Dann wache ich schreiend auf. Immer der gleiche
Traum, seit einigen Monaten, fast jede Nacht.
»Musst
du denn nicht zurück zur Arbeit?« Fragend schaute ich ihn an. »Sie
werden dich im Krankenhaus sicher brauchen.« »Ach, das hab ich
geklärt.« Er zwinkerte mir zu und lächelte verschmitzt. Jamie war
Assistenzarzt in der Kinderchirurgie. Obwohl er erst seit Kurzem mit
dem Studium fertig war, machte er seine Sache sehr gut. Er
nahm den Kindern die Angst vor den Operationen, brachte sie immer zum
Lachen und erklärte ihnen die Dinge so, dass die Kinder sie
verstanden, ohne dabei Angst zu haben.
Dadurch
war er sehr beliebt und hatte
sich
diesen Urlaub hart erkämpfen müssen.
Dass
Jamie
nun
einfach
ein
paar Tage dranhängen
konnte,
war mir unbegreiflich. An
jedem anderen Tag hätte mich das in eine berauschende, glückselige
Stimmung versetzt. Wahrscheinlich wäre ich im Kreis um ihn herum
gehüpft, wie es so meine leicht kindische Art war. An diesem Tag
jedoch nicht. Am Morgen war etwas geschehen, das mein ganzes
bisheriges Leben völlig auf den Kopf stellte. Zumindest die paar
Jahre, an die ich mich erinnerte.
Jamie
hatte mich vor fünf Jahren verwahrlost an einem Straßenrand
aufgelesen, ich wusste nicht, woher ich kam und wer ich war. Ich
hatte keine Vergangenheit und kein Zuhause. Alles was ich besaß, war
ein Ausweis. Darauf stand, dass ich Valeria Barcley hieß. Ich war
einen Meter fünfundsechzig groß und hatte grüne Augen. Es
war ein richtig stechendes, leuchtendes Grün, wie zwei geschliffene
und polierte
Smaragde,
welche
von der Sonne angestrahlt wurden.
Außerdem
stand da noch, dass mein Geburtstag der 21. 01. 1988 war und somit
war ich damals einundzwanzig Jahre alt. Auch mein ehemaliger Wohnort
war darauf angegeben. Also fuhr die Polizei mit mir in meine alte
Wohnung, aber die war leer. Nichts deutete darauf hin, dass hier vor
kurzem jemand gewohnt haben sollte, es lag sogar eine dicke
Staubschicht auf den Fensterbrettern. Seltsam war auch, dass ich
keinerlei Verletzungen hatte, so
dass auch niemand eine Erklärung dafür hatte, warum sich in meinem
Kopf eine große Leere ohne irgendwelche Anhaltspunkte für
Erinnerungen befand.
Nicht einmal die Ärzte fanden etwas genaueres heraus, denn jeder
Test fiel unauffällig aus. Letztendlich gab man es auf nach der
Ursache zu suchen und die Ärzte meinten, dass ich abwarten müsste.
Es bestand die Hoffnung, dass meine Erinnerung von alleine
zurückkehrte, während
dieses ganzen Marathons wich
Jamie
mir nicht von der Seite.
Er
fühlte sich verantwortlich, wie er mir auf meine Frage, warum er
nicht einfach verschwand, gestand.
Denn
schließlich hatte er mich gefunden und so kam es, dass er mich in
seinem Gästehaus wohnen ließ
als
ich nicht wusste wohin. Jamie hatte eine wohlhabende Familie, so dass
es für ihn keine Finanziellen Probleme darstellte mich mit durch zu
füttern. Die Bindung zu ihm war von Anfang an stark, schon beim
ersten Blick in seine Augen knisterte es gewaltig
bei
mir, so dass mich auch schnell nicht mehr das schlechte Gewissen
plagte, sondern ich die Nähe zu ihm einfach genoss. Er war der
Einzige, der mir gleich vertraut vorkam, es war als würde ich ihn
mein Leben lang kennen
auch
wenn ich mich nicht an ihn erinnern konnte. Dass
wir
uns auch wirklich nicht kannten, versicherte er mir auch mehrfach
glaubhaft.
Und
trotzdem dauerte es nicht lange bis wir ein Paar wurden und ich von
dem Gästehaus in sein Haus umsiedelte.
Wir
waren überglücklich und gingen beide in unserer Beziehung und in
unseren Berufen auf.
Doch
seit heute Morgen war alles anders.
Wie
immer stand ich um halb sechs auf während
Jamie
noch tief und fest
schlief,
er war im Urlaub ein Langschläfer
wie
aus dem Bilderbuch. Ich beobachtete ihn noch eine Weile, er
sah
so ruhig und friedlich aus. Sein markantes Kinn wirkte viel weicher
und seine vollen Lippen umspielte ein leichtes Lächeln
während
seine Hand auf dem Kissen zuckte, vermutlich träumte er immer noch
selig und irgendwie beneidete ich ihn ein wenig um seinen Erholsamen
Schlaf. Ich wandte mich ab und nahm mir ein mintgrünes Kleid aus dem
Schrank, von dem ich wusste,
dass
es
meine Figur vorteilhaft zur Geltung brachte und meine leuchtend roten
Haare betonte. Schnell zog ich mich im Badezimmer um und machte mich
frisch, es zog mich an den Strand und ich wollte den schönen morgen
genießen.
Ich
genoss
es,
einfach nur so barfuß durch den Sand zu spazieren
während
meine Gedanken ihre eigene Richtung nahmen.
Ich
liebte die Natur,
den
warmen Sommerwind in den Haaren, den Sand auf der Haut und den
Salzigen Geschmack der Seeluft im Mund. Diese frühe Stunde hatte
etwas Magisches, Nacht und Tag stritten sich um die Vorherrschaft und
tauchten die Erde in ein magisches Licht.
Alles
wirkte weicher, lebendiger, neu und unschuldig. Es war eine eigene
Tageszeit für mich welche ich am liebsten alleine genoss.
So
schlenderte ich gedankenverloren weiter, als mir eine Frau entgegen
kam. Sie sah schon von Weitem seltsam aus. Es war ihre Silhouette,
die sie komisch wirken ließ. Als sie näher kam, erkannte ich, was
so merkwürdig war. Sie trug eine Art Rokoko-Kleid, wie sie
heutzutage höchstens noch in einem Theater oder bei einer Hochzeit
zu finden sind. Die Frau sah aus, als wäre sie einer anderen Zeit
entsprungen. Sie kam direkt auf mich zu, sodass ich ihr Gesicht sehen
konnte. Ihre Augen waren türkisfarben und ihre Haare genauso
ungewöhnlich rot wie meine. Allerdings waren ihre glatt und nicht
lockig wie bei mir. Ihr Gesicht war schmal geschnitten. Es drückte
Freundlichkeit und Strenge aus. In ihren Augen konnte ich Stolz
erkennen. Das Kleid, das sie trug, sah aus wie reine Seide. Die
Sonnenstrahlen verfingen sich in dem Stoff. Es schimmerte wie ein vom
Tau feuchtes Spinnennetz. Das Kleid war königsblau und am Dekolleté
mit weißer Spitze besetzt. Um die Hüften war es eng wie ein Mieder
und die Farbe des Stoffes variierte dort. An diesen Stellen sah es
eher schwarzblau aus. Der Rock des Kleides war bodenlang und
verdeckte ihre Füße. Unten am Saum war es mit schwarzen Garn
bestickt. Wäre das Kleid weiß gewesen, hätte ich sie für eine
Braut auf der Flucht gehalten. Als ich mich mit ihr auf einer Höhe
befand und an ihr vorbeiging, sprach sie mich an:
»Valeria,
warte.« Verwundert drehte ich mich zu der Frau um. »Ich muss mit
dir reden.«
»Woher
wissen Sie, wer ich bin?«, fragte ich verdutzt. Gleichzeitig keimte
Hoffnung in mir auf.
Kannte
sie mich etwa von früher? Konnte sie mir sagen, wer ich wirklich
war? Nur die Hoffnung, Antworten auf diese Fragen zu bekommen, ließ
mich stehenbleiben.
»Ich
bin deine Schwester, Valeria.« Was sagte sie da? Ich brauchte einen
Moment, um das Gehörte zu verarbeiten. Das würde die Ähnlichkeit
erklären, dachte ich mir. Aber warum tauchte sie dann erst jetzt
auf? So viele Jahre später! Hatte man nicht früher nach mir
gesucht? Die Gedanken schwirrten nur so in meinem Kopf herum.
»Meine
Schwester?«, fragte ich, um sicher zu gehen, dass ich mich nicht
verhört hatte.
»Ja,
das ist für dich alles schwer zu verstehen, weil du hier sicher auch
deine Familie haben wirst, aber ich kann das alles erklären.« Jetzt
war ich verwirrt. Und ich registrierte nicht so richtig, was die Frau
sagte. Meine Gedanken drehten sich im Kreis und tausend Dinge gingen
mir durch den Kopf. Wenn sie wirklich meine Schwester war, wo war der
Rest meiner Familie? Oder gab es keinen Rest? Warum suchte sie mich
erst jetzt? Mein Fall war lange durch die Medien gegangen, sie hätte
von mir hören müssen.
»Wie
meinen Sie das? Bin ich adoptiert worden? Ich kann mich an nichts
erinnern.« Auf dem Gesicht der Frau spiegelte sich ihre Verwunderung
wider. »Du kannst dich an nichts erinnern? Ich meine, an dein
menschliches Leben?«
Ich
runzelte die Stirn. So langsam fand ich ihre Worte etwas seltsam.
Aber ich war voller Hoffnung. Ich wollte endlich erfahren, wer ich
wirklich war. Also beachtete ich das nicht weiter. »Nein, ich
erinnere mich an nichts.«
Einen
Augenblick lang lag unendliche Trauer im Blick der fremden Frau. Sie
hatte sich schnell wieder gefasst und Stolz trat in ihr Gesicht. Sie
straffte die Schultern, als würde sie sich auf einen harten Kampf
gefasst machen.
»Ich
bin hier, um dich an deine Vergangenheit zu erinnern. Eine
Vergangenheit, die du nicht auf der Erde erlebt hast.« Okay, das
konnte ich wirklich nicht mehr ignorieren. Ich schüttelte den Kopf.
»Wer sind sie?«, fragte ich mit scharfer Stimme. Sollte sie ruhig
merken, dass ich ihr nicht glaubte. »Sind Sie von irgendeiner Sekte
oder so was?« Meine Worte hatten sie anscheinend irritiert. Für
einen kurzen Moment entglitten ihr alle Gesichtszüge, doch sie fing
sich schnell wieder. »Nein«, antwortete sie und ihre Stimme klang
fest. »Ich weiß nicht, was eine Sekte ist. Ich bin deine Schwester,
eben nur nicht von hier.« Das war mir zu blöd. Ich hatte keine Lust
mehr, mir noch mehr Schwachsinn anzuhören. Zudem war ich sauer. Als
Jamie mich gefunden hatte, war mein Fall durch alle Medien gegangen.
Man hatte gehofft, jemanden zu finden, der mich kannte. Es meldeten
sich auch Leute. Leider stellte sich immer heraus, dass diese nur in
die Medien wollten. Gekannt hatten sie mich nicht. Sie wollten durch
mein Schicksal Ruhm erlangen. Es war, als hätte es mich vor diesem
Tag nicht gegeben. Nicht einmal die Nachbarn meiner angeblichen
Wohnung hatten mich jemals gesehen. Letztendlich hatte ich die
Hoffnung aufgegeben. Ich fand mich damit ab, dass ich nichts über
meine Vergangenheit erfahren würde. So hatte ich weiter gelebt und
war glücklich geworden. Und dann kam diese Frau hier an und riss
alte Wunden auf. Ich schüttelte den Kopf. Enttäuscht und sauer auf
mich selbst, weil ich wieder meiner Hoffnung verfallen war. Dann
drehte ich mich um und ging entschlossen weiter.
»Warte,
Valeria!« Irgendetwas in ihrer Stimme ließ mich innehalten. Ich
schloss kurz die Augen und holte tief Luft. Dann drehte ich mich noch
einmal um.
»Es
ist wirklich so, wie ich es sage! Ich kann es dir beweisen.« In
ihrem Gesicht spiegelte sich nichts als Ehrlichkeit. Ich suchte nach
einem Anzeichen für eine Lüge. Aber da war nichts. Die Frau schien
wirklich zu glauben, was sie sagte.
Ich
seufzte. »Na schön. Beweisen sie es mir!«
Heute
weiß ich nicht mehr, warum ich so schnell nachgegeben habe.
Irgendein Gefühl musste mich dazu gedrängt haben. Und da war immer
noch diese verdammte Hoffnung, doch endlich zu erfahren, wer ich
wirklich war. Dazu kam, dass die Frau ein Gefühl weckte, das ich
bisher nur einmal empfunden hatte. Ein Gefühl von Vertrautheit und
Heimat, als würde ich diese Frau schon mein Leben lang kennen. Das
gleiche Gefühl wie damals, als ich Jamie das erste Mal sah. Ich
konnte mich dagegen einfach nicht wehren.
Und
was sollte schon großartig passieren? Entweder sie konnte wirklich
beweisen, was sie da sagte, oder es würde sich herausstellen, dass
es nichts als heiße Luft war. Ob eine Enttäuschung mehr oder
weniger, machte auch nichts mehr aus. Ein Leuchten trat in ihre
Augen. Und ein erstes, echtes, breites Lächeln entblößte ihre
makellos weißen Zähne.
»Okay.
Gib mir deine Hand, bitte.«
Ich
tat, was sie sagte und legte meine Hand in ihre. Misstrauisch
beobachtete ich die Frau. Nichts geschah. Was sollte das Ganze? Wir
standen einige Sekunden einfach so da. Ihre Augen waren geschlossen
und ich hatte meinen skeptischen Blick auf sie gerichtet. Plötzlich
verdrehte sie die Augen und sagte entnervt: »Valeria! So wird das
nichts!«
Mir
war nicht klar, dass ich etwas machen sollte. Ich sah die Frau
verdattert an. Sie schaute mich an, als würde ich die einfachsten
Dinge wie Sprechen oder Laufen nicht beherrschen. »Du musst es
wollen, Valeria! Nur so kann ich dir zeigen, dass ich die Wahrheit
sage. Du musst dich drauf einlassen, ohne irgendwelche Vorurteile.
Also lass dich bitte einfach fallen und konzentriere dich!« Sie nahm
erneut meine Hand. Ich fragte mich, worauf ich mich denn
konzentrieren sollte. Mal abgesehen davon, dass das Ganze vollkommen
verrückt war. Ich schob die Gedanken beiseite. Die Frau sah nicht so
aus, als würde sie noch eine Frage dulden. Also tat ich dasselbe wie
sie und schloss einfach die Augen. Dann konzentrierte ich mich auf
ihre Hand. Sie lag angenehm warm in meiner. Doch sie war nicht
einfach nur warm. Es war, als würde sie glühen, ein sehr angenehmes
Glühen. Ich konzentrierte mich darauf, dieses Glühen genauer zu
erforschen. Es breitete sich langsam aus und mir war, als könnte ich
es vor meinem inneren Auge sehen. Während es immer größer wurde,
kroch es von meiner Hand in meinen Arm und von da aus in meinen
ganzen Körper.
Und
plötzlich hatte es uns komplett eingehüllt. Auf einmal war es so,
als würde ich völlig schwerelos schweben. Ich öffnete die Augen
und wir standen nicht mehr am Strand in der hellen Sonne, sondern
bewegten uns lautlos über der Erde. Gerade passierten wir unseren
Mond. Die Sicht war ein klein wenig getrübt, da uns ein helles Licht
umgab. Dennoch tat es der Schönheit um uns herum keinen Abbruch. Als
Nächstes passierten wir den Mars. Er war tausendmal schöner als auf
den Bildern, die man im Internet finden kann. Ein wunderbarer roter
Planet, der bronzefarben schimmerte, erstaunlich und umwerfend schön.
Über die Verrücktheit der Situation machte ich mir keine Gedanken.
Der Anblick des Weltalls war einfach atemberaubend und ließ keinen
Platz für irgendwelche rationalen Empfindungen. Der riesige Jupiter
kam näher und näher. Wir hielten direkt auf ihn zu, sodass ich
schon befürchtete, wir würden mit ihm zusammenstoßen. Doch dann
merkte ich, wie wir auf einen kleinen blauen Punkt zuflogen. Es
musste einer der Monde des Jupiters sein. Ich war von der Umgebung so
überwältigt, dass ich überhaupt kein Wort herausbrachte. Der blaue
Punkt wurde immer größer und entwickelte sich nach und nach
tatsächlich zu einem kleinen Mond.
Die
Reise war nicht lang, eigentlich waren es sogar nur ein paar
Sekunden. Dann stand ich auf einem Balkon und hatte auch ein weit
ausgestelltes Kleid an. Meine Haare waren zurückgesteckt und auf
meinem Kopf saß ein silbernes Diadem. Ich sah zum Horizont, an dem
gerade der Jupiter unterging. Er war riesig und wirkte dreißig mal
größer als die daneben stehende Sonne. Sie war nichts weiter als
ein heller Punkt am Himmel. Jupiter schien die Wärme der Sonne
gespeichert zu haben. Er gab sie an den kleinen Mond ab, auf dem wir
standen. Mir kam das alles nicht komisch vor. Ich fühlte, dass es so
sein musste. Langsam kehrte die Erinnerung zurück. Die Szene änderte
sich, nun saß ich auf einem Thron und viele Menschen verneigten sich
vor mir. Ich fühlte eine tiefe Traurigkeit in mir, konnte aber nicht
sagen, woher sie kam. Und wieder änderte sich das Bild. Nun saß ich
auf einem großen Drachen. Er hatte perlmuttblaue Schuppen am Bauch
und blaues glänzendes Fell auf dem Rücken. Der Drache war weiblich
und hieß Celeste. Sie war mein Drache, meine Gefährtin, ein Teil
meiner Seele, meine Freundin. Auf ihrem Rücken dahinschwebend
schienen alle Sorgen von mir zu fallen. Eine tiefe Zufriedenheit
durchströmte mich. Und nochmals änderte sich die Szene. Jetzt war
ich gefesselt. Ich stand in einem riesigen Raum. Er war rund wie ein
Theater. In der Mitte vor mir stand ein großer, sehr hoher Tisch. An
dem saß eine Frau mit langen schwarzen Haaren. Sie sah mir sehr
ähnlich. Doch ihr Gesichtsausdruck war kalt und abweisend, voller
Hass. Die Frau sagte etwas, das ich nicht verstehen konnte. Dann
stand sie auf und zeigte mit einem Finger auf mich. Ich wusste, dass
sie dabei war, mich zu verurteilen. Sie verbannte mich auf die Erde.
Die Begründung war eine einzige Lüge: Verrat an meinem Volk. Und
dann verschwand alles. Es war, als würde ich kurz ohnmächtig
werden. Einen Augenblick lang war alles schwarz. Dann waren wir
wieder zurück am Strand und die aufgehende Sonne blendete mich.
Ich
schloss die Augen. Es dauerte einen Moment, bis ich begriff, was eben
geschehen war. Viel zu viele Bilder strömten immer noch durch meinen
Kopf. Meine Erinnerung wurde immer klarer und kehrte zurück. Ich
wusste wieder, wer ich war, woher ich kam und was meine Bestimmung
war. Meine Augen hielt ich noch einige Sekunden geschlossen, denn es
war eine ganze Menge, was mein Gehirn da aufnehmen musste. Die
Erinnerung an ein ganzes Leben. Dann öffnete ich die Augen und sah
die Frau vor mir an.
»Takira
...«, flüsterte ich und Tränen traten mir in die Augen. Die Frau
vor mir nickte. Tränenüberströmt lächelte sie mich herzlich und
glücklich an, bevor sie mir in die Arme fiel. »Du erinnerst dich!«,
flüsterte sie in mein Haar. Wir setzten uns beide in den Sand.
Während die Sonne mich wärmte, ließ ich die Erinnerung auf mich
einströmen. Ich dachte an mein früheres Leben und an den Menschen,
der ich einmal gewesen war.
Ich
bin auf Lysithea geboren, dies ist ein Mond, der den Jupiter
umkreist. Seit Jahrhunderten wurde er von der Kaiserfamilie Barcley
regiert. Dabei wurde das Amt immer von der Mutter zur Tochter
weitergegeben. Meine Mutter war Kaiserin Xandra Barcley. Sie war die
schlimmste Kaiserin, die Lysithea je gesehen hatte, denn sie
tyrannisierte ihr Volk, wo sie nur konnte. Wie jeder Tyrann strebte
auch sie nach Macht und Vollkommenheit. Sie wollte die Schönste
sein, wollte begehrt, gefürchtet und geliebt werden. Und dafür ging
sie über Leichen. Sie ließ ihre Magier nach der Unsterblichkeit
forschen. Unsere Lebenserwartung von einhundertsiebzig Jahren war ihr
nicht genug. Das Volk litt und starb unter ihrer Herrschaft. Dennoch
konnte niemand etwas unternehmen. Xandra wurde von einer starken
Schwarzen Magierin beschützt. Sie hieß Bija Baen. Nach außen hin
war allerdings Aurora unsere Hofmagierin. Aurora war die
Zwillingsschwester von Bija. Das Volk von Lysithea litt Hunger und
war arm. Es zahlte hohe Steuern. Nur der Kaiserin und ihrem Adel ging
es über alle Maßen gut. Es gab keinen Mittelstand. Entweder war man
ein Bauer oder Arbeiter und damit arm oder man gehörte dem Adel an
und war reich. Die Kluft dazwischen war riesig. Die Kaiserin war der
Überzeugung, dass man ein Volk nur mit strenger Hand regieren
konnte. Sie glaubte, dass man es arm halten musste, damit es keine
Möglichkeit hatte zu rebellieren. Sie setzte Angst und Respekt
gleich. Auch mich wollte sie zu Hass und Gewalt erziehen. Sie wollte,
dass ich ihrem Beispiel folgte. Ich sollte ihre tyrannische
Herrschaft fortsetzen. Auf Lysithea war es Brauch, dass die Tochter
schon mit fünfundzwanzig Jahren das Amt der Kaiserin übernahm. Auf
diese Art und Weise sollte das Land jung gehalten werden. Die Mutter
hatte zu diesem Zeitpunkt abzudanken. Auch war es so üblich, dass
die Tochter, wenn sie das Amt übernahm, bereits verheiratet war. Mit
einem Mann, den die Mutter ausgesucht hatte.
Meine
Mutter wollte mich damals mit einem Adligen verheiraten, der ihre
tyrannischen Auffassungen vertrat. Sein Name war Beliar Sheddas.
Meine Mutter wusste, dass er alles tun würde, was sie sagte, da er
unbedingt in Xandras Gunst stehen wollte. Glücklicherweise hatte
meine Mutter als Kaiserin so viel zu tun, dass ich von einem
Kindermädchen aufgezogen wurde. Vielleicht hatte sie auch einfach
keine Lust, sich mit einem Kind herumzuplagen. Pandita war noch sehr
jung, zwanzig Jahre, als ich schon zwei war. Sie war der
warmherzigste Mensch, den ich kannte und dank ihr hatte ich keine
lieblose Kindheit. Durch Pandita lernte ich, was wahre Freundschaft
und Liebe bedeutet. Dass man durch Freundlichkeit und mit einem
Lächeln meist mehr erreichen kann als mit den schlimmsten Drohungen.
Und dass man niemals Angst mit Respekt verwechseln sollte. Als ich
noch klein war, rebellierte ich offen gegen alles, was meine Mutter
tat. Doch je älter ich wurde, desto mehr verstand ich, dass ich
meine wahren Gefühle vor ihr verbergen musste. Sonst war meine
Zukunft als Kaiserin in Gefahr. Ich lernte im Laufe der Jahre, im
Beisein meiner Mutter eine steinerne Maske zu tragen. Damit tat ich
so, als wäre ich ebenso herzlos wie sie. In meinem Inneren jedoch
schwor ich mir, alles besser zu machen. Ich wollte dem Leiden des
Volkes ein Ende setzen und mit der Zeit wurde es immer schwerer,
schweigend zuzusehen, wie das Volk litt.
Pandita
und ich wurden beste Freunde. Auch sie hatte mit der Zeit gelernt,
sich nach außen herzlos zu zeigen, wenn die Umstände es
erforderten. Als ich elf war, wurde Takira geboren. Auch sie wurde
von Pandita groß gezogen. Takira war ein wunderbares Mädchen, mit
zehn Jahren verstand sie schon so viel. Wir waren unzertrennlich.
Obwohl sie noch ein Kind war und ich mit meinen einundzwanzig Jahren
schon im heiratsfähigen Alter. Mit zweiundzwanzig bekam ich Celeste,
ein Geschenk von meinem Vater. Celeste war meine zweite Hälfte, mit
ihr fühlte ich mich vollkommen. Sie war einer der letzten Drachen,
die es noch auf Lysithea gab. Meine Mutter hatte alle ausrotten
lassen, obwohl sie dazu da waren, die Menschen zu beschützen.
Vielleicht war das der Grund, warum sie die Drachen jagen ließ. Aus
Angst, sie könnten es eines Tages auf sie abgesehen haben. Xandra
war überhaupt nicht begeistert darüber, dass ich einen Drachen
bekommen hatte. Doch ich sagte ihr, einen Drachen auf unserer Seite
zu haben, könnte von großem Vorteil sein. Wahrscheinlich passte es
ihr auch schon einfach deshalb nicht, weil es ein Geschenk meines
Vaters war. Sie hatte ihn sowieso nie geliebt. So etwas wie Liebe
kannte sie wahrscheinlich gar nicht. Mein Vater, war ein Liebevoller
und warmherziger Mensch. Ich liebte ihn abgöttisch.
An
meinem vierundzwanzigsten Geburtstag stellte Xandra mir dann meinen
zukünftigen Mann vor. Beliar war sehr gut aussehend, aber das war
auch schon alles. Er hatte einen stämmigen Körper, wirkte aber
nicht dick, sondern sah eher groß aus. Schwarze Haare und stahlblaue
Augen machten ihn besonders attraktiv. Wäre sein Charakter nicht
gewesen, hätte man sich glatt verlieben können. Doch er war eitel,
arrogant, fies und hinterlistig. Schon bei unserem ersten Treffen war
er einfach nur abstoßend. Ich konnte ihn nicht ausstehen. In den
Augen meiner Mutter war er perfekt. Ich wusste, dass ich diese
Hochzeit irgendwie verhindern musste.
Die
Hochzeit sollte in dem Jahr meiner Krönung stattfinden. Ich hatte
also noch ein Jahr Zeit. Die nutzte ich auch. Ich fing an, Xandra zu
erzählen, wie nutzlos so ein Mann doch sei. Dass wir Kaiserinnen das
Sagen hätten. Und dass Beliar sicher ein Mann war, der die Macht für
sich selbst beanspruchen wollte. Xandra glaubte mir und sagte die
Hochzeit ab. Mittlerweile war sie der festen Überzeugung, dass ich
genauso geworden war wie sie und sie war unendlich Stolz darauf. Fast
tat es mir leid, sie die ganze Zeit über angelogen zu haben. Doch
die Liebe zu meinem Volk und der Wunsch, ihm endlich Frieden bringen
zu können, war stark. Stärker als mein schlechtes Gewissen. Ein
Jahr später fand die Krönung statt. Meine Mutter war stolz und
wartete mit Freuden auf meine erste Amtshandlung als Kaiserin. Doch
die war nicht die, die meine Mutter erwartet hatte. Als Allererstes
sorgte ich dafür, dass mein Volk keinen Hunger mehr leiden musste.
Anlässlich
meiner Krönung sollte es ein drei Tage dauerndes Fest geben. Den
ersten Tag ließ ich noch zu, aber die anderen beiden Tage sagte ich
ab. Ich befahl meinen Dienern, das Essen, gerecht unter den armen
Bauern aufzuteilen. Mein Vater übernahm dabei mit Freuden die
Aufsicht. Xandra tobte vor Wut. Doch sie konnte nichts mehr tun. Als
Kaiserin stand ich unter Lysitheas Schutz. Und auch sie musste sich
an gewisse Gesetze halten.
Mir
war klar, dass sie das alles nicht hinnehmen würde. Aber ich
kümmerte mich erst einmal um mein Volk. Nach und nach versuchte ich,
all die Missstände im Land zu ändern. Ich senkte die Steuern und
reduzierte die prunkvollen Feste. Ich hielt Audienzen ab, in denen
mein Volk mich um Unterstützung bitten konnte. Nicht immer konnte
ich ihnen helfen. Doch nach und nach ging es meinem Volk besser.
Takira half mir bei schwierigen Situationen und um Xandra war es
ruhig geworden. Eigentlich hätte es mich beunruhigen sollen, doch
ich hatte zu viel zu tun, um mir darüber Gedanken zu machen.
Die
nächsten drei Jahre flogen dahin und ich fing an, mich einsam zu
fühlen. Ich hatte zwar Freunde und meine Schwester war inzwischen
schon achtzehn Jahre alt. Auch mein Vater war da. Doch mir fehlte die
Liebe eines Mannes. Meinem Volk ging es wieder besser und ich hatte
mehr Freizeit. Dann verschwand mein Vater. Ganz plötzlich und
niemand wusste warum. Aber ich war mir sicher, dass meine Mutter
etwas damit zu tun hatte. Doch da ich ihr nichts beweisen konnte,
waren mir die Hände gebunden. Ich trauerte lange und verbrachte die
meiste Zeit im Schlossgarten. Dort genoss ich es, in der Natur zu
sein, und konnte viel nachdenken. Mit achtundzwanzig war ich trotz
einer Lebenserwartung von ungefähr Einhundertsiebzig Jahren langsam
alt. Zumindest, was das Kinder bekommen anging. Alle Kaiserinnen
hatten bereits im ersten Jahr ihrer Herrschaft auch ihr erstes Kind
bekommen. Allerdings waren diese ja auch vorher verheiratet gewesen.
Bei
meinen Ausflügen in den Kaiserlichen Gärten lernte ich eines Tages
Jamie kennen. Er war der Vertreter des Drachenhüters und somit war
es ihm verboten, mit mir zu reden. An dem Nachmittag brachte er mir
Celeste, die bei ihm war, um sich ihr Fell bürsten zu lassen. Jamie
hatte eine faszinierende Ausstrahlung. Ich fühlte mich von Anfang an
zu ihm hingezogen. Als er wieder gehen wollte, hielt ich ihn zurück.
Er sah mich zuerst geschockt an. Denn er wusste, dass wir hier das
Protokoll missachteten. Darauf konnte unter Umständen der Tod
stehen. Nach mehreren Treffen öffnete er sich. Dabei merkte ich,
dass in ihm ähnliche Gefühle vorgingen wie in mir. Wir begannen,
uns heimlich in den Gärten zu treffen, und verliebten uns. Wenn wir
zusammen waren, war ich überglücklich. Wenn ich allein war, kamen
die Zweifel. Was wir auch taten, es war verboten. Trotz aller Verbote
entschloss ich mich, Jamie als meinen Mann zu wählen. Mein Volk
stand fast geschlossen hinter mir. Nur im Adel gab es einige, die das
ganz und gar nicht guthießen. Meist waren es die alten Anhänger
meiner Mutter, die immer noch hinter ihr standen. Und meine Mutter
war das größte Problem. Ich wusste, dass sie mir das niemals
ungestraft durchgehen lassen würde. Deshalb war ich mir sicher, dass
sie einen Weg finden würde, um sich zu rächen. Doch das alles war
mir egal. Ich war die Kaiserin und konnte heiraten, wen ich wollte.
Es wurde eine große Hochzeit gefeiert und mein Volk feierte mit.
Doch in den Reihen der Adligen wurden schon Intrigen gesponnen. So
wurden Anschuldigungen gegen mich laut. Zum Beispiel, dass ich gar
nicht vorhatte, die Thronfolge zu sichern. Weiter hieß es, ich würde
zusammen mit Aurora daran arbeiten, unsterblich zu werden. Und dass
ich Jamie nur geheiratet hätte, weil er ein Bauer war. Dadurch hätte
ich mir noch mehr Macht gesichert. Ein Adliger hätte ja wenigstens
ein gewisses Mitspracherecht gehabt.
Nach
zwei Jahren, ich war mittlerweile dreißig und hatte noch kein Kind
zur Welt gebracht, wurde ich des Hochverrats angeklagt. Und Jamie mit
mir. Xandra führte das Gericht an, sie war herzlos und eiskalt.
Beweise brauchte sie keine, da sie Klägerin und Richterin zu gleich
war und der Großteil des Adels hinter ihr stand. In einer Nacht- und
Nebel-Aktion hatte sie Jamie und mich gefangen genommen. Sie
verurteilte Jamie zum Tode und verbannte mich auf die Erde. Dort
sollte ich ein menschliches Leben führen, ohne jemals glücklich zu
werden oder mich wieder an mein altes Leben erinnern zu können.
Und
nun erinnerte ich mich doch. Wieder sah ich in Takiras Augen. »Warum
bist du hier?« Ich versuchte, mit der Flut von Erinnerungen fertig
zu werden, und schloss kurz die Augen. »Wir brauchen deine Hilfe«,
sagte sie leise. Ich sah sie an. Zum ersten Mal wurde mir wirklich
bewusst, wer da vor mir stand. Tränen stiegen mir in die Augen. Bei
meiner Verurteilung hatte ich gedacht, dass ich Takira nie wieder
sehen würde. Ich nahm sie in die Arme. »Es ist so schön, dich zu
sehen«, flüsterte ich und merkte, wie sie schluckte. Plötzlich
fiel mir Jamie ein. Ich wusste genau, dass der Mann der mich hier auf
der Erde gefunden und gerettet hatte, der Jamie war, der auf Lysithea
zum Tode verurteilt worden war. Das gleiche Gefühl, wenn er mich in
den Arm nahm, die gleichen Augen, die mich liebevoll musterten. Und
es war das gleiche Herz, das mich so unendlich liebte. Aber wie war
das möglich?
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