Donnerstag, 11. Dezember 2014

Auszug aus "Lysitheas Erbe - Kampf um Liebe und Magie"

Kapitel 1 – Lysithea


Die Wellen schlugen an den Strand und meine roten Locken wehten mir ins Gesicht. Jamie ging neben mir her. Ein kurzer Blick in sein Gesicht genügte, um zu sehen, dass er das schöne Wetter sichtlich genoss. Der erste richtig schöne Tag seit wir unseren Urlaub hier an der Ostsee begonnen hatten. »Valeria?«, fragte Jamie. Ich hatte gar nicht mitbekommen, dass er mit mir redete. Obwohl ich ihm direkt ins Gesicht gesehen hatte. »Ja?« Ich errötete und zuckte ein wenig zusammen.
»Was sagst du dazu?« Er zog seine perfekt geschwungenen Augenbrauen fragend nach oben. »Was sage ich wozu?« Verwirrt schaute ich ihn an. Mit einem leichten Lächeln verdrehte er seine goldbraunen Augen. Er kannte mich so gut, dass er lächelnd er darüber hinweg sah, wenn ich ihm nicht zu hörte. »Ich hab dich gefragt, was du davon hältst, wenn wir unseren Urlaub ein bisschen verlängern. Es wäre doch schade, wenn wir jetzt, wo das Wetter so schön geworden ist, schon wieder abreisen. Und der Wetterbericht hat für die nächsten Tage noch mehr Sonnenschein angekündigt«, wiederholte er geduldig, seine Frage. »Das wäre toll!« Ich versuchte, meine Stimme enthusiastisch klingen zu lassen, und lächelte. Eigentlich sollte ich mich freuen, wenn ich noch mehr Zeit mit Jamie verbringen konnte. Zu Hause wartete nur Arbeit auf uns und wenig Zeit zu zweit. Ich war selbstständige Autorin und lag mit meinem neuen Buch weit zurück. Denn ich hatte eine Schreibblockade, die meiner Meinung nach an den Albträumen lag, welche mich in den letzten Monaten plagten.
In diesen Träumen ist es immer dunkel und viele Flammen wüten auf einer weiten Ebene. Jamie liegt jedes Mal ein ganzes Ende von mir entfernt zwischen mehreren Feuerzungen. Er rührt sich nicht. Ich versuche zu ihm zu kommen, doch mein weit ausgestelltes Kleid, dass ich in jedem Traum trage, hindert mich daran. Mit jedem Schritt, den ich auf Jamie zu gehe, entfernt er sich weiter von mir. Nach Ewigkeiten hat das Feuer mich eingekreist und verbrennt mich bei lebendigem Leibe. Dann wache ich schreiend auf. Immer der gleiche Traum, seit einigen Monaten, fast jede Nacht.
»Musst du denn nicht zurück zur Arbeit?« Fragend schaute ich ihn an. »Sie werden dich im Krankenhaus sicher brauchen.« »Ach, das hab ich geklärt.« Er zwinkerte mir zu und lächelte verschmitzt. Jamie war Assistenzarzt in der Kinderchirurgie. Obwohl er erst seit Kurzem mit dem Studium fertig war, machte er seine Sache sehr gut. Er nahm den Kindern die Angst vor den Operationen, brachte sie immer zum Lachen und erklärte ihnen die Dinge so, dass die Kinder sie verstanden, ohne dabei Angst zu haben. Dadurch war er sehr beliebt und hatte sich diesen Urlaub hart erkämpfen müssen. Dass Jamie nun einfach ein paar Tage dranhängen konnte, war mir unbegreiflich. An jedem anderen Tag hätte mich das in eine berauschende, glückselige Stimmung versetzt. Wahrscheinlich wäre ich im Kreis um ihn herum gehüpft, wie es so meine leicht kindische Art war. An diesem Tag jedoch nicht. Am Morgen war etwas geschehen, das mein ganzes bisheriges Leben völlig auf den Kopf stellte. Zumindest die paar Jahre, an die ich mich erinnerte.
Jamie hatte mich vor fünf Jahren verwahrlost an einem Straßenrand aufgelesen, ich wusste nicht, woher ich kam und wer ich war. Ich hatte keine Vergangenheit und kein Zuhause. Alles was ich besaß, war ein Ausweis. Darauf stand, dass ich Valeria Barcley hieß. Ich war einen Meter fünfundsechzig groß und hatte grüne Augen. Es war ein richtig stechendes, leuchtendes Grün, wie zwei geschliffene und polierte Smaragde, welche von der Sonne angestrahlt wurden. Außerdem stand da noch, dass mein Geburtstag der 21. 01. 1988 war und somit war ich damals einundzwanzig Jahre alt. Auch mein ehemaliger Wohnort war darauf angegeben. Also fuhr die Polizei mit mir in meine alte Wohnung, aber die war leer. Nichts deutete darauf hin, dass hier vor kurzem jemand gewohnt haben sollte, es lag sogar eine dicke Staubschicht auf den Fensterbrettern. Seltsam war auch, dass ich keinerlei Verletzungen hatte, so dass auch niemand eine Erklärung dafür hatte, warum sich in meinem Kopf eine große Leere ohne irgendwelche Anhaltspunkte für Erinnerungen befand. Nicht einmal die Ärzte fanden etwas genaueres heraus, denn jeder Test fiel unauffällig aus. Letztendlich gab man es auf nach der Ursache zu suchen und die Ärzte meinten, dass ich abwarten müsste. Es bestand die Hoffnung, dass meine Erinnerung von alleine zurückkehrte, während dieses ganzen Marathons wich Jamie mir nicht von der Seite. Er fühlte sich verantwortlich, wie er mir auf meine Frage, warum er nicht einfach verschwand, gestand. Denn schließlich hatte er mich gefunden und so kam es, dass er mich in seinem Gästehaus wohnen ließ als ich nicht wusste wohin. Jamie hatte eine wohlhabende Familie, so dass es für ihn keine Finanziellen Probleme darstellte mich mit durch zu füttern. Die Bindung zu ihm war von Anfang an stark, schon beim ersten Blick in seine Augen knisterte es gewaltig bei mir, so dass mich auch schnell nicht mehr das schlechte Gewissen plagte, sondern ich die Nähe zu ihm einfach genoss. Er war der Einzige, der mir gleich vertraut vorkam, es war als würde ich ihn mein Leben lang kennen auch wenn ich mich nicht an ihn erinnern konnte. Dass wir uns auch wirklich nicht kannten, versicherte er mir auch mehrfach glaubhaft. Und trotzdem dauerte es nicht lange bis wir ein Paar wurden und ich von dem Gästehaus in sein Haus umsiedelte. Wir waren überglücklich und gingen beide in unserer Beziehung und in unseren Berufen auf.
Doch seit heute Morgen war alles anders.
Wie immer stand ich um halb sechs auf während Jamie noch tief und fest schlief, er war im Urlaub ein Langschläfer wie aus dem Bilderbuch. Ich beobachtete ihn noch eine Weile, er sah so ruhig und friedlich aus. Sein markantes Kinn wirkte viel weicher und seine vollen Lippen umspielte ein leichtes Lächeln während seine Hand auf dem Kissen zuckte, vermutlich träumte er immer noch selig und irgendwie beneidete ich ihn ein wenig um seinen Erholsamen Schlaf. Ich wandte mich ab und nahm mir ein mintgrünes Kleid aus dem Schrank, von dem ich wusste, dass es meine Figur vorteilhaft zur Geltung brachte und meine leuchtend roten Haare betonte. Schnell zog ich mich im Badezimmer um und machte mich frisch, es zog mich an den Strand und ich wollte den schönen morgen genießen. Ich genoss es, einfach nur so barfuß durch den Sand zu spazieren während meine Gedanken ihre eigene Richtung nahmen. Ich liebte die Natur, den warmen Sommerwind in den Haaren, den Sand auf der Haut und den Salzigen Geschmack der Seeluft im Mund. Diese frühe Stunde hatte etwas Magisches, Nacht und Tag stritten sich um die Vorherrschaft und tauchten die Erde in ein magisches Licht. Alles wirkte weicher, lebendiger, neu und unschuldig. Es war eine eigene Tageszeit für mich welche ich am liebsten alleine genoss.
So schlenderte ich gedankenverloren weiter, als mir eine Frau entgegen kam. Sie sah schon von Weitem seltsam aus. Es war ihre Silhouette, die sie komisch wirken ließ. Als sie näher kam, erkannte ich, was so merkwürdig war. Sie trug eine Art Rokoko-Kleid, wie sie heutzutage höchstens noch in einem Theater oder bei einer Hochzeit zu finden sind. Die Frau sah aus, als wäre sie einer anderen Zeit entsprungen. Sie kam direkt auf mich zu, sodass ich ihr Gesicht sehen konnte. Ihre Augen waren türkisfarben und ihre Haare genauso ungewöhnlich rot wie meine. Allerdings waren ihre glatt und nicht lockig wie bei mir. Ihr Gesicht war schmal geschnitten. Es drückte Freundlichkeit und Strenge aus. In ihren Augen konnte ich Stolz erkennen. Das Kleid, das sie trug, sah aus wie reine Seide. Die Sonnenstrahlen verfingen sich in dem Stoff. Es schimmerte wie ein vom Tau feuchtes Spinnennetz. Das Kleid war königsblau und am Dekolleté mit weißer Spitze besetzt. Um die Hüften war es eng wie ein Mieder und die Farbe des Stoffes variierte dort. An diesen Stellen sah es eher schwarzblau aus. Der Rock des Kleides war bodenlang und verdeckte ihre Füße. Unten am Saum war es mit schwarzen Garn bestickt. Wäre das Kleid weiß gewesen, hätte ich sie für eine Braut auf der Flucht gehalten. Als ich mich mit ihr auf einer Höhe befand und an ihr vorbeiging, sprach sie mich an:
»Valeria, warte.« Verwundert drehte ich mich zu der Frau um. »Ich muss mit dir reden.«
»Woher wissen Sie, wer ich bin?«, fragte ich verdutzt. Gleichzeitig keimte Hoffnung in mir auf.
Kannte sie mich etwa von früher? Konnte sie mir sagen, wer ich wirklich war? Nur die Hoffnung, Antworten auf diese Fragen zu bekommen, ließ mich stehenbleiben.
»Ich bin deine Schwester, Valeria.« Was sagte sie da? Ich brauchte einen Moment, um das Gehörte zu verarbeiten. Das würde die Ähnlichkeit erklären, dachte ich mir. Aber warum tauchte sie dann erst jetzt auf? So viele Jahre später! Hatte man nicht früher nach mir gesucht? Die Gedanken schwirrten nur so in meinem Kopf herum.
»Meine Schwester?«, fragte ich, um sicher zu gehen, dass ich mich nicht verhört hatte.
»Ja, das ist für dich alles schwer zu verstehen, weil du hier sicher auch deine Familie haben wirst, aber ich kann das alles erklären.« Jetzt war ich verwirrt. Und ich registrierte nicht so richtig, was die Frau sagte. Meine Gedanken drehten sich im Kreis und tausend Dinge gingen mir durch den Kopf. Wenn sie wirklich meine Schwester war, wo war der Rest meiner Familie? Oder gab es keinen Rest? Warum suchte sie mich erst jetzt? Mein Fall war lange durch die Medien gegangen, sie hätte von mir hören müssen.
»Wie meinen Sie das? Bin ich adoptiert worden? Ich kann mich an nichts erinnern.« Auf dem Gesicht der Frau spiegelte sich ihre Verwunderung wider. »Du kannst dich an nichts erinnern? Ich meine, an dein menschliches Leben?«
Ich runzelte die Stirn. So langsam fand ich ihre Worte etwas seltsam. Aber ich war voller Hoffnung. Ich wollte endlich erfahren, wer ich wirklich war. Also beachtete ich das nicht weiter. »Nein, ich erinnere mich an nichts.«
Einen Augenblick lang lag unendliche Trauer im Blick der fremden Frau. Sie hatte sich schnell wieder gefasst und Stolz trat in ihr Gesicht. Sie straffte die Schultern, als würde sie sich auf einen harten Kampf gefasst machen.
»Ich bin hier, um dich an deine Vergangenheit zu erinnern. Eine Vergangenheit, die du nicht auf der Erde erlebt hast.« Okay, das konnte ich wirklich nicht mehr ignorieren. Ich schüttelte den Kopf. »Wer sind sie?«, fragte ich mit scharfer Stimme. Sollte sie ruhig merken, dass ich ihr nicht glaubte. »Sind Sie von irgendeiner Sekte oder so was?« Meine Worte hatten sie anscheinend irritiert. Für einen kurzen Moment entglitten ihr alle Gesichtszüge, doch sie fing sich schnell wieder. »Nein«, antwortete sie und ihre Stimme klang fest. »Ich weiß nicht, was eine Sekte ist. Ich bin deine Schwester, eben nur nicht von hier.« Das war mir zu blöd. Ich hatte keine Lust mehr, mir noch mehr Schwachsinn anzuhören. Zudem war ich sauer. Als Jamie mich gefunden hatte, war mein Fall durch alle Medien gegangen. Man hatte gehofft, jemanden zu finden, der mich kannte. Es meldeten sich auch Leute. Leider stellte sich immer heraus, dass diese nur in die Medien wollten. Gekannt hatten sie mich nicht. Sie wollten durch mein Schicksal Ruhm erlangen. Es war, als hätte es mich vor diesem Tag nicht gegeben. Nicht einmal die Nachbarn meiner angeblichen Wohnung hatten mich jemals gesehen. Letztendlich hatte ich die Hoffnung aufgegeben. Ich fand mich damit ab, dass ich nichts über meine Vergangenheit erfahren würde. So hatte ich weiter gelebt und war glücklich geworden. Und dann kam diese Frau hier an und riss alte Wunden auf. Ich schüttelte den Kopf. Enttäuscht und sauer auf mich selbst, weil ich wieder meiner Hoffnung verfallen war. Dann drehte ich mich um und ging entschlossen weiter.
»Warte, Valeria!« Irgendetwas in ihrer Stimme ließ mich innehalten. Ich schloss kurz die Augen und holte tief Luft. Dann drehte ich mich noch einmal um.
»Es ist wirklich so, wie ich es sage! Ich kann es dir beweisen.« In ihrem Gesicht spiegelte sich nichts als Ehrlichkeit. Ich suchte nach einem Anzeichen für eine Lüge. Aber da war nichts. Die Frau schien wirklich zu glauben, was sie sagte.
Ich seufzte. »Na schön. Beweisen sie es mir!«
Heute weiß ich nicht mehr, warum ich so schnell nachgegeben habe. Irgendein Gefühl musste mich dazu gedrängt haben. Und da war immer noch diese verdammte Hoffnung, doch endlich zu erfahren, wer ich wirklich war. Dazu kam, dass die Frau ein Gefühl weckte, das ich bisher nur einmal empfunden hatte. Ein Gefühl von Vertrautheit und Heimat, als würde ich diese Frau schon mein Leben lang kennen. Das gleiche Gefühl wie damals, als ich Jamie das erste Mal sah. Ich konnte mich dagegen einfach nicht wehren.
Und was sollte schon großartig passieren? Entweder sie konnte wirklich beweisen, was sie da sagte, oder es würde sich herausstellen, dass es nichts als heiße Luft war. Ob eine Enttäuschung mehr oder weniger, machte auch nichts mehr aus. Ein Leuchten trat in ihre Augen. Und ein erstes, echtes, breites Lächeln entblößte ihre makellos weißen Zähne.
»Okay. Gib mir deine Hand, bitte.«
Ich tat, was sie sagte und legte meine Hand in ihre. Misstrauisch beobachtete ich die Frau. Nichts geschah. Was sollte das Ganze? Wir standen einige Sekunden einfach so da. Ihre Augen waren geschlossen und ich hatte meinen skeptischen Blick auf sie gerichtet. Plötzlich verdrehte sie die Augen und sagte entnervt: »Valeria! So wird das nichts!«
Mir war nicht klar, dass ich etwas machen sollte. Ich sah die Frau verdattert an. Sie schaute mich an, als würde ich die einfachsten Dinge wie Sprechen oder Laufen nicht beherrschen. »Du musst es wollen, Valeria! Nur so kann ich dir zeigen, dass ich die Wahrheit sage. Du musst dich drauf einlassen, ohne irgendwelche Vorurteile. Also lass dich bitte einfach fallen und konzentriere dich!« Sie nahm erneut meine Hand. Ich fragte mich, worauf ich mich denn konzentrieren sollte. Mal abgesehen davon, dass das Ganze vollkommen verrückt war. Ich schob die Gedanken beiseite. Die Frau sah nicht so aus, als würde sie noch eine Frage dulden. Also tat ich dasselbe wie sie und schloss einfach die Augen. Dann konzentrierte ich mich auf ihre Hand. Sie lag angenehm warm in meiner. Doch sie war nicht einfach nur warm. Es war, als würde sie glühen, ein sehr angenehmes Glühen. Ich konzentrierte mich darauf, dieses Glühen genauer zu erforschen. Es breitete sich langsam aus und mir war, als könnte ich es vor meinem inneren Auge sehen. Während es immer größer wurde, kroch es von meiner Hand in meinen Arm und von da aus in meinen ganzen Körper.
Und plötzlich hatte es uns komplett eingehüllt. Auf einmal war es so, als würde ich völlig schwerelos schweben. Ich öffnete die Augen und wir standen nicht mehr am Strand in der hellen Sonne, sondern bewegten uns lautlos über der Erde. Gerade passierten wir unseren Mond. Die Sicht war ein klein wenig getrübt, da uns ein helles Licht umgab. Dennoch tat es der Schönheit um uns herum keinen Abbruch. Als Nächstes passierten wir den Mars. Er war tausendmal schöner als auf den Bildern, die man im Internet finden kann. Ein wunderbarer roter Planet, der bronzefarben schimmerte, erstaunlich und umwerfend schön. Über die Verrücktheit der Situation machte ich mir keine Gedanken. Der Anblick des Weltalls war einfach atemberaubend und ließ keinen Platz für irgendwelche rationalen Empfindungen. Der riesige Jupiter kam näher und näher. Wir hielten direkt auf ihn zu, sodass ich schon befürchtete, wir würden mit ihm zusammenstoßen. Doch dann merkte ich, wie wir auf einen kleinen blauen Punkt zuflogen. Es musste einer der Monde des Jupiters sein. Ich war von der Umgebung so überwältigt, dass ich überhaupt kein Wort herausbrachte. Der blaue Punkt wurde immer größer und entwickelte sich nach und nach tatsächlich zu einem kleinen Mond.
Die Reise war nicht lang, eigentlich waren es sogar nur ein paar Sekunden. Dann stand ich auf einem Balkon und hatte auch ein weit ausgestelltes Kleid an. Meine Haare waren zurückgesteckt und auf meinem Kopf saß ein silbernes Diadem. Ich sah zum Horizont, an dem gerade der Jupiter unterging. Er war riesig und wirkte dreißig mal größer als die daneben stehende Sonne. Sie war nichts weiter als ein heller Punkt am Himmel. Jupiter schien die Wärme der Sonne gespeichert zu haben. Er gab sie an den kleinen Mond ab, auf dem wir standen. Mir kam das alles nicht komisch vor. Ich fühlte, dass es so sein musste. Langsam kehrte die Erinnerung zurück. Die Szene änderte sich, nun saß ich auf einem Thron und viele Menschen verneigten sich vor mir. Ich fühlte eine tiefe Traurigkeit in mir, konnte aber nicht sagen, woher sie kam. Und wieder änderte sich das Bild. Nun saß ich auf einem großen Drachen. Er hatte perlmuttblaue Schuppen am Bauch und blaues glänzendes Fell auf dem Rücken. Der Drache war weiblich und hieß Celeste. Sie war mein Drache, meine Gefährtin, ein Teil meiner Seele, meine Freundin. Auf ihrem Rücken dahinschwebend schienen alle Sorgen von mir zu fallen. Eine tiefe Zufriedenheit durchströmte mich. Und nochmals änderte sich die Szene. Jetzt war ich gefesselt. Ich stand in einem riesigen Raum. Er war rund wie ein Theater. In der Mitte vor mir stand ein großer, sehr hoher Tisch. An dem saß eine Frau mit langen schwarzen Haaren. Sie sah mir sehr ähnlich. Doch ihr Gesichtsausdruck war kalt und abweisend, voller Hass. Die Frau sagte etwas, das ich nicht verstehen konnte. Dann stand sie auf und zeigte mit einem Finger auf mich. Ich wusste, dass sie dabei war, mich zu verurteilen. Sie verbannte mich auf die Erde. Die Begründung war eine einzige Lüge: Verrat an meinem Volk. Und dann verschwand alles. Es war, als würde ich kurz ohnmächtig werden. Einen Augenblick lang war alles schwarz. Dann waren wir wieder zurück am Strand und die aufgehende Sonne blendete mich.
Ich schloss die Augen. Es dauerte einen Moment, bis ich begriff, was eben geschehen war. Viel zu viele Bilder strömten immer noch durch meinen Kopf. Meine Erinnerung wurde immer klarer und kehrte zurück. Ich wusste wieder, wer ich war, woher ich kam und was meine Bestimmung war. Meine Augen hielt ich noch einige Sekunden geschlossen, denn es war eine ganze Menge, was mein Gehirn da aufnehmen musste. Die Erinnerung an ein ganzes Leben. Dann öffnete ich die Augen und sah die Frau vor mir an.
»Takira ...«, flüsterte ich und Tränen traten mir in die Augen. Die Frau vor mir nickte. Tränenüberströmt lächelte sie mich herzlich und glücklich an, bevor sie mir in die Arme fiel. »Du erinnerst dich!«, flüsterte sie in mein Haar. Wir setzten uns beide in den Sand. Während die Sonne mich wärmte, ließ ich die Erinnerung auf mich einströmen. Ich dachte an mein früheres Leben und an den Menschen, der ich einmal gewesen war.
Ich bin auf Lysithea geboren, dies ist ein Mond, der den Jupiter umkreist. Seit Jahrhunderten wurde er von der Kaiserfamilie Barcley regiert. Dabei wurde das Amt immer von der Mutter zur Tochter weitergegeben. Meine Mutter war Kaiserin Xandra Barcley. Sie war die schlimmste Kaiserin, die Lysithea je gesehen hatte, denn sie tyrannisierte ihr Volk, wo sie nur konnte. Wie jeder Tyrann strebte auch sie nach Macht und Vollkommenheit. Sie wollte die Schönste sein, wollte begehrt, gefürchtet und geliebt werden. Und dafür ging sie über Leichen. Sie ließ ihre Magier nach der Unsterblichkeit forschen. Unsere Lebenserwartung von einhundertsiebzig Jahren war ihr nicht genug. Das Volk litt und starb unter ihrer Herrschaft. Dennoch konnte niemand etwas unternehmen. Xandra wurde von einer starken Schwarzen Magierin beschützt. Sie hieß Bija Baen. Nach außen hin war allerdings Aurora unsere Hofmagierin. Aurora war die Zwillingsschwester von Bija. Das Volk von Lysithea litt Hunger und war arm. Es zahlte hohe Steuern. Nur der Kaiserin und ihrem Adel ging es über alle Maßen gut. Es gab keinen Mittelstand. Entweder war man ein Bauer oder Arbeiter und damit arm oder man gehörte dem Adel an und war reich. Die Kluft dazwischen war riesig. Die Kaiserin war der Überzeugung, dass man ein Volk nur mit strenger Hand regieren konnte. Sie glaubte, dass man es arm halten musste, damit es keine Möglichkeit hatte zu rebellieren. Sie setzte Angst und Respekt gleich. Auch mich wollte sie zu Hass und Gewalt erziehen. Sie wollte, dass ich ihrem Beispiel folgte. Ich sollte ihre tyrannische Herrschaft fortsetzen. Auf Lysithea war es Brauch, dass die Tochter schon mit fünfundzwanzig Jahren das Amt der Kaiserin übernahm. Auf diese Art und Weise sollte das Land jung gehalten werden. Die Mutter hatte zu diesem Zeitpunkt abzudanken. Auch war es so üblich, dass die Tochter, wenn sie das Amt übernahm, bereits verheiratet war. Mit einem Mann, den die Mutter ausgesucht hatte.
Meine Mutter wollte mich damals mit einem Adligen verheiraten, der ihre tyrannischen Auffassungen vertrat. Sein Name war Beliar Sheddas. Meine Mutter wusste, dass er alles tun würde, was sie sagte, da er unbedingt in Xandras Gunst stehen wollte. Glücklicherweise hatte meine Mutter als Kaiserin so viel zu tun, dass ich von einem Kindermädchen aufgezogen wurde. Vielleicht hatte sie auch einfach keine Lust, sich mit einem Kind herumzuplagen. Pandita war noch sehr jung, zwanzig Jahre, als ich schon zwei war. Sie war der warmherzigste Mensch, den ich kannte und dank ihr hatte ich keine lieblose Kindheit. Durch Pandita lernte ich, was wahre Freundschaft und Liebe bedeutet. Dass man durch Freundlichkeit und mit einem Lächeln meist mehr erreichen kann als mit den schlimmsten Drohungen. Und dass man niemals Angst mit Respekt verwechseln sollte. Als ich noch klein war, rebellierte ich offen gegen alles, was meine Mutter tat. Doch je älter ich wurde, desto mehr verstand ich, dass ich meine wahren Gefühle vor ihr verbergen musste. Sonst war meine Zukunft als Kaiserin in Gefahr. Ich lernte im Laufe der Jahre, im Beisein meiner Mutter eine steinerne Maske zu tragen. Damit tat ich so, als wäre ich ebenso herzlos wie sie. In meinem Inneren jedoch schwor ich mir, alles besser zu machen. Ich wollte dem Leiden des Volkes ein Ende setzen und mit der Zeit wurde es immer schwerer, schweigend zuzusehen, wie das Volk litt.
Pandita und ich wurden beste Freunde. Auch sie hatte mit der Zeit gelernt, sich nach außen herzlos zu zeigen, wenn die Umstände es erforderten. Als ich elf war, wurde Takira geboren. Auch sie wurde von Pandita groß gezogen. Takira war ein wunderbares Mädchen, mit zehn Jahren verstand sie schon so viel. Wir waren unzertrennlich. Obwohl sie noch ein Kind war und ich mit meinen einundzwanzig Jahren schon im heiratsfähigen Alter. Mit zweiundzwanzig bekam ich Celeste, ein Geschenk von meinem Vater. Celeste war meine zweite Hälfte, mit ihr fühlte ich mich vollkommen. Sie war einer der letzten Drachen, die es noch auf Lysithea gab. Meine Mutter hatte alle ausrotten lassen, obwohl sie dazu da waren, die Menschen zu beschützen. Vielleicht war das der Grund, warum sie die Drachen jagen ließ. Aus Angst, sie könnten es eines Tages auf sie abgesehen haben. Xandra war überhaupt nicht begeistert darüber, dass ich einen Drachen bekommen hatte. Doch ich sagte ihr, einen Drachen auf unserer Seite zu haben, könnte von großem Vorteil sein. Wahrscheinlich passte es ihr auch schon einfach deshalb nicht, weil es ein Geschenk meines Vaters war. Sie hatte ihn sowieso nie geliebt. So etwas wie Liebe kannte sie wahrscheinlich gar nicht. Mein Vater, war ein Liebevoller und warmherziger Mensch. Ich liebte ihn abgöttisch.
An meinem vierundzwanzigsten Geburtstag stellte Xandra mir dann meinen zukünftigen Mann vor. Beliar war sehr gut aussehend, aber das war auch schon alles. Er hatte einen stämmigen Körper, wirkte aber nicht dick, sondern sah eher groß aus. Schwarze Haare und stahlblaue Augen machten ihn besonders attraktiv. Wäre sein Charakter nicht gewesen, hätte man sich glatt verlieben können. Doch er war eitel, arrogant, fies und hinterlistig. Schon bei unserem ersten Treffen war er einfach nur abstoßend. Ich konnte ihn nicht ausstehen. In den Augen meiner Mutter war er perfekt. Ich wusste, dass ich diese Hochzeit irgendwie verhindern musste.
Die Hochzeit sollte in dem Jahr meiner Krönung stattfinden. Ich hatte also noch ein Jahr Zeit. Die nutzte ich auch. Ich fing an, Xandra zu erzählen, wie nutzlos so ein Mann doch sei. Dass wir Kaiserinnen das Sagen hätten. Und dass Beliar sicher ein Mann war, der die Macht für sich selbst beanspruchen wollte. Xandra glaubte mir und sagte die Hochzeit ab. Mittlerweile war sie der festen Überzeugung, dass ich genauso geworden war wie sie und sie war unendlich Stolz darauf. Fast tat es mir leid, sie die ganze Zeit über angelogen zu haben. Doch die Liebe zu meinem Volk und der Wunsch, ihm endlich Frieden bringen zu können, war stark. Stärker als mein schlechtes Gewissen. Ein Jahr später fand die Krönung statt. Meine Mutter war stolz und wartete mit Freuden auf meine erste Amtshandlung als Kaiserin. Doch die war nicht die, die meine Mutter erwartet hatte. Als Allererstes sorgte ich dafür, dass mein Volk keinen Hunger mehr leiden musste.
Anlässlich meiner Krönung sollte es ein drei Tage dauerndes Fest geben. Den ersten Tag ließ ich noch zu, aber die anderen beiden Tage sagte ich ab. Ich befahl meinen Dienern, das Essen, gerecht unter den armen Bauern aufzuteilen. Mein Vater übernahm dabei mit Freuden die Aufsicht. Xandra tobte vor Wut. Doch sie konnte nichts mehr tun. Als Kaiserin stand ich unter Lysitheas Schutz. Und auch sie musste sich an gewisse Gesetze halten.
Mir war klar, dass sie das alles nicht hinnehmen würde. Aber ich kümmerte mich erst einmal um mein Volk. Nach und nach versuchte ich, all die Missstände im Land zu ändern. Ich senkte die Steuern und reduzierte die prunkvollen Feste. Ich hielt Audienzen ab, in denen mein Volk mich um Unterstützung bitten konnte. Nicht immer konnte ich ihnen helfen. Doch nach und nach ging es meinem Volk besser. Takira half mir bei schwierigen Situationen und um Xandra war es ruhig geworden. Eigentlich hätte es mich beunruhigen sollen, doch ich hatte zu viel zu tun, um mir darüber Gedanken zu machen.
Die nächsten drei Jahre flogen dahin und ich fing an, mich einsam zu fühlen. Ich hatte zwar Freunde und meine Schwester war inzwischen schon achtzehn Jahre alt. Auch mein Vater war da. Doch mir fehlte die Liebe eines Mannes. Meinem Volk ging es wieder besser und ich hatte mehr Freizeit. Dann verschwand mein Vater. Ganz plötzlich und niemand wusste warum. Aber ich war mir sicher, dass meine Mutter etwas damit zu tun hatte. Doch da ich ihr nichts beweisen konnte, waren mir die Hände gebunden. Ich trauerte lange und verbrachte die meiste Zeit im Schlossgarten. Dort genoss ich es, in der Natur zu sein, und konnte viel nachdenken. Mit achtundzwanzig war ich trotz einer Lebenserwartung von ungefähr Einhundertsiebzig Jahren langsam alt. Zumindest, was das Kinder bekommen anging. Alle Kaiserinnen hatten bereits im ersten Jahr ihrer Herrschaft auch ihr erstes Kind bekommen. Allerdings waren diese ja auch vorher verheiratet gewesen.
Bei meinen Ausflügen in den Kaiserlichen Gärten lernte ich eines Tages Jamie kennen. Er war der Vertreter des Drachenhüters und somit war es ihm verboten, mit mir zu reden. An dem Nachmittag brachte er mir Celeste, die bei ihm war, um sich ihr Fell bürsten zu lassen. Jamie hatte eine faszinierende Ausstrahlung. Ich fühlte mich von Anfang an zu ihm hingezogen. Als er wieder gehen wollte, hielt ich ihn zurück. Er sah mich zuerst geschockt an. Denn er wusste, dass wir hier das Protokoll missachteten. Darauf konnte unter Umständen der Tod stehen. Nach mehreren Treffen öffnete er sich. Dabei merkte ich, dass in ihm ähnliche Gefühle vorgingen wie in mir. Wir begannen, uns heimlich in den Gärten zu treffen, und verliebten uns. Wenn wir zusammen waren, war ich überglücklich. Wenn ich allein war, kamen die Zweifel. Was wir auch taten, es war verboten. Trotz aller Verbote entschloss ich mich, Jamie als meinen Mann zu wählen. Mein Volk stand fast geschlossen hinter mir. Nur im Adel gab es einige, die das ganz und gar nicht guthießen. Meist waren es die alten Anhänger meiner Mutter, die immer noch hinter ihr standen. Und meine Mutter war das größte Problem. Ich wusste, dass sie mir das niemals ungestraft durchgehen lassen würde. Deshalb war ich mir sicher, dass sie einen Weg finden würde, um sich zu rächen. Doch das alles war mir egal. Ich war die Kaiserin und konnte heiraten, wen ich wollte. Es wurde eine große Hochzeit gefeiert und mein Volk feierte mit. Doch in den Reihen der Adligen wurden schon Intrigen gesponnen. So wurden Anschuldigungen gegen mich laut. Zum Beispiel, dass ich gar nicht vorhatte, die Thronfolge zu sichern. Weiter hieß es, ich würde zusammen mit Aurora daran arbeiten, unsterblich zu werden. Und dass ich Jamie nur geheiratet hätte, weil er ein Bauer war. Dadurch hätte ich mir noch mehr Macht gesichert. Ein Adliger hätte ja wenigstens ein gewisses Mitspracherecht gehabt.
Nach zwei Jahren, ich war mittlerweile dreißig und hatte noch kein Kind zur Welt gebracht, wurde ich des Hochverrats angeklagt. Und Jamie mit mir. Xandra führte das Gericht an, sie war herzlos und eiskalt. Beweise brauchte sie keine, da sie Klägerin und Richterin zu gleich war und der Großteil des Adels hinter ihr stand. In einer Nacht- und Nebel-Aktion hatte sie Jamie und mich gefangen genommen. Sie verurteilte Jamie zum Tode und verbannte mich auf die Erde. Dort sollte ich ein menschliches Leben führen, ohne jemals glücklich zu werden oder mich wieder an mein altes Leben erinnern zu können.
Und nun erinnerte ich mich doch. Wieder sah ich in Takiras Augen. »Warum bist du hier?« Ich versuchte, mit der Flut von Erinnerungen fertig zu werden, und schloss kurz die Augen. »Wir brauchen deine Hilfe«, sagte sie leise. Ich sah sie an. Zum ersten Mal wurde mir wirklich bewusst, wer da vor mir stand. Tränen stiegen mir in die Augen. Bei meiner Verurteilung hatte ich gedacht, dass ich Takira nie wieder sehen würde. Ich nahm sie in die Arme. »Es ist so schön, dich zu sehen«, flüsterte ich und merkte, wie sie schluckte. Plötzlich fiel mir Jamie ein. Ich wusste genau, dass der Mann der mich hier auf der Erde gefunden und gerettet hatte, der Jamie war, der auf Lysithea zum Tode verurteilt worden war. Das gleiche Gefühl, wenn er mich in den Arm nahm, die gleichen Augen, die mich liebevoll musterten. Und es war das gleiche Herz, das mich so unendlich liebte. Aber wie war das möglich?

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